Wie christliche Theologie auf dem Weg zum Atheismus helfen kann (2) 3


Im Beitrag (1) zu diesem Thema habe ich zunächst eine aus Glaubenszweifeln heraus entstandene Anfrage von mir an etliche Theologen wiedergegeben, sowie ein paar eher seltsame Antworten. Die folgende Antwort (von einem Universitätsprofessor, dessen Namen ich hier als ppp PPP wiedergebe) hat mir nicht nur indirekt weitergeholfen.

Interessant dürfte auch sein, dass Professor PPP mich relativ bald nach meiner Anfrage telefonisch kontaktierte. In diesem Gespräch erwähnte er den aktuellen Katechismus, auf den er dann im folgenden Brief nochmals hinwies.

31.1.2001 – Sehr geehrter Herr Doktor Geyer,
zunächst ersuche ich Sie um Nachsicht dafür, dass ich erst jetzt auf Ihre e-mail v. 28.12. reagiere. Durch eine grobe Panne im PC meines Sohnes (der meinen Internet-Zugang bei mir zuhause samt den hierher “umgeleiteten” e-mails technisch “verwaltet”) schien Ihre e-mail verlorengegangen zu sein; schließlich gelang es meinem Sohn, letzteres doch noch einmal zugänglich zu machen.
Ihre Anfrage, sehr geehrter Herr Dr. Geyer, bezieht sich noch einmal vorrangig auf die Bezeichnung Gottes als “liebenden und fürsorgenden Vater”, die “heutigem Wissen” widerspreche. Sie führen dagegen eine Reihe von Einwänden an. Nun scheint mir diese Bezeichnung “liebender und fürsorgender Vater” als Kennzeichnung Gottes – als dem “Grund” und der “schlechthin alles bestimmenden Macht der Wirklichkeit” – allerdings nicht das vorrangige Problem zu sein. Als “symbolische” Ausdrucksform des sich als “abhängiges Geschöpf” einer “absoluten personalen Macht” begreifenden Menschen scheint mir dies auch in einer religionsgeschichtlichen Hinsicht durchaus verständlich zu sein. Es entspricht dies – jedenfalls ab einem bestimmten geschichtlichen Stadium des Judentums – dem jüdischen Gottesbild und dem daran in radikalisierender Weise anknüpfenden christlichen Gottesverständnis. (Nähere Gründe für diese “Vater”-Bezeichnung könnten Sie auch dem von mir erwähnten modernen “Katechismus” entnehmen).

Dennoch sind mir in einer anderen Hinsicht Ihre Zweifel daran, als kritischer, mit offenen Augen der Welt begegnender Mensch nicht an Gottes “Liebe und Fürsorge” glauben zu können, in gewisser Weise durchaus sehr gut nachvollziehbar. Gerade deshalb finde ich es jedoch wiederum erstaunlich, dass Sie offenbar Ihre Zweifel gegenüber “solch einem allmächtig fürsorgenden Vater” ganz ausdrücklich nicht etwa als einen Zweifel daran missverstanden wissen wollen, “dass es Gott nicht gibt”. Das ist mir nun, ehrlich gesagt, nicht recht einsichtig.
Sehr geehrter Herr Dr. Geyer, ich nehme die von vielen kritischen Zeitgenossen geäußerten Zweifel an der Existenz eines “guten Schöpfergottes” angesichts der ungeheuren Unrechts- und Leidensgeschichte dieser Welt sehr, sehr ernst – und bin im übrigen auch fest davon überzeugt, dass es letztlich keine plausible Antwort auf diese bedrängende Theodizee-Frage gibt. Dieses unendliche Leid – nicht zuletzt dasjeniger Unschuldiger, ist tatsächlich der “Fels des Atheismus”.

Albert Camus

Albert Camus

Des Dichters Stendhal Wort: “Die einzige Entschuldigung für Gott ist es, dass es ihn nicht gibt”, der Protest des Dr. Rieux in A. Camus‘ “Pest”, sich “bis in den Tod hinein (zu) weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden”, ist mir in der Tat weit eher nachvollziehbar, als das häufig oberflächlich-unbeirrte Frömmeln jener, denen das “Muss ein guter Vater wohnen”, der “alles so herrlich regieret”, so selbstverständlich, irgendwie auswendig-trotzig und umso unglaubwürdiger, über die Lippen geht. Die Anklage Gottes, die Dostojewskij in “Die Brüder Karamasow” dem Iwan Karamasow vor allem im Namen der unschuldigen Kinder in den Mund legt und sein Beschluss, Gott das Eintrittsbillet zurückzugeben, irritiert mich nicht zuletzt in diesen Tagen immer wieder neu: “Ja, und überhaupt hat man die Harmonie viel zu hoch bewertet, es ist überhaupt nicht unseren Vermögensverhältnissen angemessen, so viel für das Eintrittsbillet zu ihr zu zahlen. Und wenn ich auch nur eben ein anständiger Mensch bin, so bin ich ihr sogar verpflichtet, es so rasch wie möglich zurückzugeben. Das tue ich denn auch. Nicht dass ich Gott meine Anerkennung verweigere, ich gebe ‚Ihm‘ nur in aller Ehrerbietung mein Eintrittsbillet zurück.”
Ja, wer am Dasein Gottes noch nie gezweifelt hat, hat vielleicht die Gottesfrage auch noch gar nie ernstlich gestellt. Und vielleicht verbirgt sich hinter dem sogenannten “Glauben” manch “Gutgläubiger” viel eher bloß “beruhigend-stumpfe” Gedankenlosigkeit und mangelnde Sensibilität für fremdes Leid. Und vermutlich haben Menschen, die an Gott nicht nur zweifeln, sondern in Anbetracht ihrer abgründigen Welterfahrungen letztendlich auch verzweifeln, d.h. an dieser Frage aus einer letzten Wahrhaftigkeit möglicherweise auch zerbrechen, die Frage nach Gott viel ehrlicher und angemessener gestellt als jene, die “selbstsicherungsbedacht” sich lediglich an einen liebgewordenen Götzen klammern. Ja, vielleicht muss man diesem Gott, wenn es ihn denn gibt, aus Gründen der Wahrhaftigkeit auch sagen können, dass man nicht (mehr) an ihn glauben kann – gibt denn nicht noch ein solcher Zweifel darin jedenfalls der “je größeren Wahrheit” – und damit eben dem “göttlichen Gott selbst” – die Ehre?
Möglicherweise, sehr geehrter Herr Dr. Geyer, sind meine Zweifel und Bedenken da noch radikaler als Ihre Anfragen, wo Sie doch den “Glauben an Gott” und auch seine grundsätzliche “Menschenfreundlichkeit” prinzipiell ja gar nicht in Frage stellen wollen.
Zugleich ist die Gottesthematik für philosophisches Denken jedoch ein unabweisbares Thema – muss man doch fragen, ob Gott nicht immer noch ein unumgängliches Problem der menschlichen Vernunft darstellt, und keineswegs bloß in die “Psychologie des Irrtums und des Wunsches” gehört. Und dies ist auch der Grund, weshalb ich existenziell und auch in meiner philosophischen Lehrtätigkeit von dieser Thematik nicht loskomme. (Wenn Sie das interessiert, möchte ich Sie auf das Buch von Wilhelm Weischedl, Der Gott der Philosophen, Darmstadt 1971, verweisen.)
Doch darüber müssten wir wohl in ein persönliches längeres Gespräch eintreten – zu dem ich auch gerne bereit wäre. Vielleicht ist es möglich, dass wir einmal persönlich zusammenkommen. Sollten Sie daran interessiert sein, so darf ich Sie bitten, mir dies am einfachsten per e-mail mitzuteilen (…..)
Ich würde mich über Ihre Antwort jedenfalls sehr freuen, habe ich Ihre an uns gerichteten Anfragen doch als Ausdruck einer für mich recht verständlichen Verunsicherung bzw. ehrlichen Suchens verstanden. Ich hoffe deshalb, dass Sie auch von anderen Kollegen/Kolleginnen Reaktionen erhalten (haben).
Mit nochmaliger Bitte um Nachsicht für meine reichlich verspätete Antwort grüßt Sie ppp PPP
Beilage: Magnus Striet, Münster: Versuch über die Auflehnung (Aufsatz zur Frage der Theodizee)

Dieses Schreiben ist mehrfach untypisch: Absender ist ein (damaliger) Universitätsprofessor und Institutsvorstand der katholischen Theologie, und auf meine (damalige) Kritik geht er sehr ein, ja in einigem übertrifft er sie sogar.
Ich empfinde es noch heute als sehr wertvoll für mich und meine Entwicklung. Ich stand damals in einem Prozess geistiger Neuorientierung, und meine (schriftliche) Antwort auf diesen Brief wurde lang und gründlich. Ich gab darin abschließend meiner Hoffnung auf ein baldiges Gespräch mit dem Herrn Professor Ausdruck.
Es kam keine Antwort von ihm.
Mehrer Monate später fragte ich wieder nach. Er erklärte sein Schweigen mit unerwartet viel Arbeit und vertröstete mich auf die Urlaubszeit, gab mir aber bereitwillig jene Detailinformation (u.a. genaue Quellenangabe des Artikels von Magnus Striet), um die ich gebeten hatte. Aber auch im Sommer kam das von ihm ursprünglich selbst vorgeschlagene Gespräch nicht zustande.

Über ein Jahr später konzentrierte ich mich thematisch auf eine neue Frage, und ich erhoffte von ihm, der mir ja schon einmal so profund geantwortet hatte, neuerlich Auskunft:

Sehr geehrter Herr Professor PPP,
bei meiner Suche nach einer Glaubensbasis haben Sie mir mit Ihren Antworten im vorigen Jahr sehr geholfen, wofür ich Ihnen überaus dankbar bin. Sie sind nicht der einzige gewesen, der auf meinen “Hilfeschrei” reagiert hat, und einige weitere Fachleute habe ich auch gezielt persönlich angesprochen. All die Reaktionen haben mir über den Gewinn einer persönlich gesicherten Überzeugung hinaus den Einblick in ein eigenartig anmutendes gesellschaftliches Phänomen ermöglicht, das der Grund ist, warum ich mich heute neuerlich an Sie wende.
Sie waren der einzige unter vielen gläubigen Theologen, der die volle Brisanz des Theodizeeproblems zur Sprache gebracht hat. Dieser Umstand gibt mir sehr zu denken.
Für die kirchliche Theologie vor und nach dem 1. Vatikanum muss es ja eines “der” Themen in der Auseinandersetzung mit aufklärerischem Gedankengut gewesen sein. In beiden vatikanischen Konzilen wurden die dogmatischen Aussagen “Glaube vor Vernunft” und “Glaube ist nicht im Widerspruch zur Vernunft” bekräftigt.
In den letzten Jahrzehnten scheint das alles vergessen und verdrängt. Denn nur wenige Spezialisten widmen sich dem Theodizeeproblem oder diesen Dogmen. Alle anderen stellen die Theodizee als gelöst, den Grundsatz “Glaube vor Vernunft” als vernünftig und Religion überhaupt als ein vernünftiges und verlässliches Orientierungssystem dar. Diese von der bzw. den Kirchen nachhaltig propagierte Sichtweise wird unkritisch und vertrauensvoll von gesellschaftlich maßgeblichen Kräften übernommen – und zwar in viel größerem Ausmaß als noch vor etwa
50 Jahren.
Trotz aller immer wieder lauthals vorgebrachter, meist viel zu oberflächlicher Kirchenkritik findet in der Öffentlichkeit eine Kritik an Religion als Orientierungssystem und damit am konfessionellen Religionsunterricht wenig Widerhall. Ganz fundamentale Einwände wie etwa, dass eben das Theodizeeproblem kirchlicherseits nur in recht einseitig-gläubiger Weise dargestellt wird und dass überhaupt Konflikte und Diskrepanzen zwischen Glaube und Vernunft bestehen, werden nicht wahrgenommen. Die einseitige Darstellung im Religionsunterricht wird in anderen Schulgegenständen leider kaum relativiert – je fundamentaler die Aspekte sind, desto weniger.
Vernünftig oder intellektuell redlich kann Gottesglaube aber keineswegs in so verlässlich allgemeingültiger Weise sein, wie es die Verkündigung zumeist darstellt und die Gesellschaft gerne glaubt. Nicht für jeden, der getauft wurde oder intensiver religiöser Unterweisung ausgesetzt war, erweist sich Religion später als tragfähige Lebensbasis. Die persönlichen Fehlentscheidungen, die in Unkenntnis der Schwächen der theologischen Gedankengebäude getroffen werden, sind nachweisbar und verursachen oft nicht geringe Schädigungen.
Seit mir das klar geworden ist, bemühe mich daher, Gehör zu finden mit dem Vorschlag, Religionskritik im Schulunterricht neben Religion so weit zu etablieren, dass die Heranwachsenden diesbezüglich auf ausreichendes und ausgewogenes Wissen zurückgreifen können, um dann eine unbefangene persönliche freie Entscheidung für oder gegen religiösen Glauben treffen zu können. Und um diese Religionskritik unbefangen darzustellen, sollte sie nicht von Religionslehrern vorgetragen werden, sondern in anderen Gegenständen Platz finden.
Darf ich Sie zu dieser Schlussfolgerung von mir um eine Antwort bitten? Es mag nicht in Ihre unmittelbare Zuständigkeit fallen, aber als Rahmenbedingung für verantwortungsvolles Philosophieren sollte die jeweilige gesellschaftliche Situation ja auch nicht außer Acht gelassen werden.
Mit freundlichen Grüßen, Hermann Geyer

Mich wunderte nicht mehr, dass darauf wie auf meine zusätzliche Nachfrage keinerlei Reaktion erfolgte.
Denn zu oft hatte ich inzwischen schon die Erfahrung gemacht, dass die Antwort-Bereitschaft kirchennaher Personen auf Null zurückgeht, wenn das kirchliche missionarische Selbstverständnis zu sehr in Frage gestellt wird.
Dass das allerdings auch auf intellektuell höchster Ebene – also in der Person eines Universitätsprofessors einer hoch angesehenen katholischen Fakultät passierte, die noch dazu stets im Geruch einer gewissen “Weltoffenheit” gestanden hatte -, enttäuschte mich aber dennoch.
Unter welchem Druck mag dieser Professor, der die Brisanz der Fragestellungen wohl erkannt hat, stehen? Sich auf eine ehrliche Wahrheitssuche zu begeben würde für ihn wohl bedeuten, die Anerkennung durch die Kirche zu verlieren. Nicht jeder würde es wie Hans Küng schaffen, kirchlicherseits des Amtes enthoben auf einem “freien”, d.h. keiner Fakultät zugehörenden Lehrstuhl zu bleiben.

Ich habe ähnliche Dialogversuche zig-Mal durchgeführt, und die meisten Antworten, die ich in etwa 10 % der Fälle bekommen habe, sind ähnlich aufschlussreich wie die hier präsentierten Beispiele. Aufschlussreich ist aber auch das Schweigen, oder auf welche Frage oder Bemerkung hin der Dialog abgebrochen wurde. Auch in ihrer Häufigkeit oder Begründung auffallende Verleugnungen, ein sich Ausreden auf gerade überwundene Computerprobleme und in einem Fall sogar ein mir zufällig bekannt gewordener falscher Aktenvermerk über ein angeblich zur Erledigung der Anfrage stattgefundenes mündliches Gespräch ergaben ein eigenartiges Bild. Man könnte damit ein dickes Buch füllen, und Psychologen hätten viel zu tun, dieses Verhalten von Fall zu Fall zu deuten.

Übrigens habe ich einige Jahre später eine thematisch einschlägige Vorlesung von Professor PPP besucht. Wenn ich nicht wegen seines Namens gewußt hätte, dass er mir den oben wiedergegebenen Brief geschrieben hat – aus dem Vorlesungsinhalt wäre ich nicht draufgekommen, dass er der Verfasser dieses Briefes sein könnte. Religionskritische Aspekte wischte er sozusagen vom Tisch, ehe sie wahrnehmbar waren. Bei Gelegenheit (und in Anwesenheit anderer Studenten) stellte ich ihm dann einmal direkt eine religionskritische Frage – deren Beantwortung er elegant und sehr professionell auswich.

Im nächsten Beitrag gibt es noch einmal Antworten (ja, tatsächlich Plural, es war nämlich zur Abwechslung eine Diskussion mit mehrmaligem Hin und Her) von einem evangelischen Universitätsassistenten.


Über Hermann Geyer

Hermann Geyer, Jahrgang 1951 und fünffacher Vater, nützt seine technische Ausbildung jetzt nur mehr privat in und um Haus und Garten - wodurch er weltanschaulich motivierten Aktivitäten mehr Zeit widmen kann.

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3 Gedanken zu “Wie christliche Theologie auf dem Weg zum Atheismus helfen kann (2)

  • Nikolaus Bösch

    Schön war die Formulierung: “jene, die “selbstsicherungsbedacht” sich lediglich an einen liebgewordenen Götzen klammern”

    Ansonsten ist es natürlich traurig, wenn ein Dialog angeboten, dann aber nicht eingehalten wird. Vielleicht hat ihn die erste Mail zufällig in einer geneigten Stimmung erwischt.

    Warst du zu dem erwähnten Zeitpunkt Mitglied der Kirche? Warst du noch gottgläubig? Oder warst du dir deines Atheistseins schon bewusst?

    • Hermann Geyer Autor des Beitrags

      Ich war zum Zeitpunkt dieser Briefe und mails bezüglich des Glaubens an Gott sozusagen auf der Kippe.
      Aus der Kirche ausgetreten bin ich schon ein paar Jahre früher (u.a. wegen der Affäre Groer), habe über Gott bzw. religionskritische Argumente damals aber immer noch kaum nachgedacht.

      Ernsthaftes Nachdenken ausgelöst hat dann, dass vor allem im familiären – immer noch gottgläubig ausgerichteten – Leben zu vieles schlecht lief. Das brachte mich auf die Idee, die Orientierungsgrundlage selbst einmal gründlich anzuschauen – und dann ging es eher schnell in Richtung agnostisch bzw. praktisch atheistisch. Der Brief von PPP war aber eine wertvolle Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein. (Wie eigentlich auch alle anderen (Nicht-)Reaktionen bestätigend wirkten. Niemand von vielen Dutzend Kontaktierten legte mir einen Gedanken vor, den ich für nachvollziehbar oder glaubwürdig halten konnte – außer eben PPP.)