“Sei du selbst!” – Immer wieder diese Aufforderung, bloß nicht zu sein, was andere von einem wollen. Ein Freiheitsversprechen, das schwer zu erfüllen ist. Warum?
Woher weiß ich denn, dass ich jetzt ich selbst bin? Dass dieses Verlangen, dieses Bedürfnis nicht durch Werbung oder gesellschaftliche Normen, durch meine Familie oder durch das Bildungssystem erzeugt worden ist? Und selbst wenn es sich um “natürliche Bedürfnisse” wie Triebe handelt: Ist das, was “ich” bin?
Soweit die Problemlage.
Wir Menschen sind keine Inseln, unser Gehirn ist ein neuronales Netzwerk, das wiederum integriert ist, in ein kulturelles Netzwerk. Wir betrachten die Welt anhand einer gewissen Programmierung, die wir gelernt haben, und wir können die Programmierung nach und nach verändern, wenn wir uns mit der Welt auseinander setzen.
Für die meisten Atheisten unserer Zeit hat die Programmierung früher oder später mit dem Glauben an Gott zu tun gehabt. Die meisten Österreicher und Österreicherinnen, die heute leben, wurden als Kinder getauft. Viele, die heute Atheisten sind, haben sich gegenüber dieser von Geburt an festgelegten Zugehörigkeit gelöst. Die für Österreich “normale” Weltanschauung, das, was die Kultur mehrheitlich vermittelt wurde mithilfe kritischer Texte, Personen und so weiter aus einer anderen Perspektive betrachtet. Gelernte Glaubenssätze wurden entlernt, um Raum für neues zu schaffen.
Dieser Prozess ist ein wichtiger Teil der Selbstfindung und Selbstwerdung. Aber er kommt auch nicht nur aus dem Inneren, sondern wir vollziehen ihn häufig in Anlehnung an andere Menschen und ihre Ideen. Seien das jetzt Feuerbach, Marx, Dawkins oder unsere Mitschülerinnen, die nicht getauft sind.
Wichtig ist, dass der Prozess nicht mit der Erkenntnis, “dass es wahrscheinlich keinen Gott gibt”, beendet ist. Wir haben dann einen Teil unseres Weltbildes renoviert. Aber wie verortet sich dieser neue Teil im Gesamtkonstrukt? Wer außer der Kirche hat uns noch Glaubenssätze mitgegeben?
Wir sind so dermaßen von Werbung umgeben, von Nachrichten und vielem mehr, dass wir davon ausgehen müssen, dass wir von äußeren Einflüssen manipuliert werden. Wenn wir das so anerkennen, dann haben wir nicht die Wahl zwischen manipuliert werden oder nicht. Unsere Wahl besteht dann darin: Von wem lasse ich mich manipulieren? Welchen Ideen gestehe ich die Macht zu, meine Wahrnehmung und mein Handeln zu beeinflussen. Die Freiheit besteht dann darin, dass ich selbst diese Entscheidung treffe, statt mich willenlos treiben zu lassen.
Was, wenn wir Religion so verstehen, dass wir es lieber aktiv tun, als geschehen lassen? Wenn wir als Atheisten die Chance ergreifen wollen, ein positives Bild von Religion als Praxis zu entwickeln, können wir viel gewinnen. (Bei aller Kritik an real existierenden Religionen…)
Die Nachrichten lenken unsere Aufmerksamkeit, gestalten unser Weltbild. Die Bildung tut es … wir hatten das schon. Aber vielleicht will ich selbst bestimmen, wofür ich meine beschränkte Ressource Aufmerksamkeit aufwenden will. Dann wäre es gut, sich eine Zeit zu nehmen, in der man sich aktiv von äußeren Einflüssen abgrenzt, oder absichtlich bestimmt, welchen äußeren Einflüssen man sich aussetzen will.
Zum Beispiel kann ich mir vornehmen, jeden Tag aufzuzählen, was ich an diesem Tag gemacht habe, mit dem ich zufrieden bin. Ich kann mich mit dem auseinandersetzen, wo ich der Meinung bin, dass ich einen Fehler gemacht habe. Dann kann ich mir überlegen, was ich besser machen hätte können. Dann kann ich mich bei dem Fehler bedanken, dass ich etwas gelernt habe, und ihn gehen lassen. Auf diese Art kann ich vielleicht verhindern, dass ich ihn als “Schuld” mit mir herum schleppe.
Vielleicht neigen Sie zu sehr selbstkritischem Verhalten? Oder Sie neigen dazu, ihre Situation und ihre Aussichten im düstersten Licht zu betrachten? Oder vielleicht erscheint Ihnen das ganze Leben manchmal sinnlos … Die meisten Menschen haben einmal dieses Muster und einmal jenes, das ihnen das Leben unnötig schwer macht, und von dem sie sich gern lösen würden. Die meisten Menschen haben auch so ihre Strategien dazu. Die funktionieren auch mal besser, mal schlechter.
Wenn es all zu schlimm wird – und leider oft erst dann- besuchen manche auch einen professionellen Heiler oder zumindest Betreuer (Psychotherapie).
Religion könnte eine Struktur sein, gewisse heilsame Praxis in den Alltag zu holen. Eine Religionsgesellschaft der Atheisten könnte ein Netzwerk sein, ein kulturelles Zuhause, wo man in Austausch mit den Ideen treten kann, von denen man lernen will. Wo religiöse Praxis nicht von Gott her gedacht wird, sondern vom Menschen her.
Religiöse Praxis wäre demnach nicht mehr etwas verschlossenes, was mir als aufgeklärtem Atheisten nicht schicklich ist, sondern etwas, was mir helfen kann, meinen Platz in der Welt, und mein Bild von der Welt als humanistischer Atheist zu entwickeln.
Es wäre eine Beschäftigung mit Lebenssinn und Transzendenz, nicht vor dem Hintergrund eines übergeordneten Befehls, sondern meines eigenen Willens gepaart mit meiner Einsicht.
Religiöse Praxis wie Rituale und Zeremonien könnten helfen, das eigene Wertesystem zu ordnen. Dadurch könnten viele Leiden gelindert werden, die aus der Zerrissenheit entstehen, dass man keine Klarheit findet, und zwischen widersprüchlichen Bedürfnissen zerrieben wird. Wer dieses Gefühl noch nie gespürt hat, werfe den ersten Stein.
Rituale könnten die Werteprüfung: “Was halte ich für richtig, welche Art Mensch will ich sein?”, in den Alltag holen, und dadurch unterbewusst vorhandenen Stolz und Scham ins Licht des Bewusstseins bringen. Zeremonien könnten helfen, dass man diesen Prozess nicht alleine gehen muss, und sich auf diesem Weg bestärkt.
Das sind einige der Gründe, warum ich eine atheistische Religionsgesellschaft für eine gute Idee halte!