Wir freuen uns, zum heurigen Jahrestag der Novemberpogrome vom 9./10. November 1938 einen Gastbeitrag von Marko Feingold veröffentlichen zu können.
Als am 9. und 10. November 1938 in Deutschland und Österreich die Synagogen brannten, jüdische Geschäfte demoliert und ausgeraubt wurden, Juden grundlos ermordet und/oder massenhaft in die Konzentrationslager verbracht wurden, an diesen Tagen war ich nicht mehr in Österreich.
Ich kann also als Zeuge dieser Zeit für Österreich keinen Bericht als Augenzeuge ablegen.
Und trotzdem habe ich an diese Tage und jene davor eine genaue Erinnerung.
Ich war im November 1938 als Flüchtling in Polen. Zuvor war ich in der Tschechoslowakei ohne gültige Papiere angetroffen worden, wurde in Prag inhaftiert und nach Polen abgeschoben.
Im Oktober 1938 gab es in Polen ein neues Gesetz, das all jenen die polnische Staatsbürgerschaft entzog, die länger als 5 Jahre nicht mehr im Land wohnhaft waren.
Fast gleichzeitig mußten nun diese nun staatenlosen ehemaligen polnischen Bürger die schon viele Jahre in Deutschland lebten das Land verlassen. Mehr als 5000 Personen wurden an die deutsch-polnische Grenze gestellt und standen dort tagelang ohne Lebensmittel im Niemandsland.
Unter diesen 5000 Vertriebenen war auch die Familie Grynszpan, ein Familienmitglied befand sich in Paris und erfuhr, was seiner Familie angetan wurde. Am 7. November ging Herschel Grynszpan mit einem Revolver auf die Deutsche Botschaft und schoß auf den Sekretär Ernst vom Rath, am darauffolgenden Tag erlag er seinen Verletzungen.
Das war der Auftakt der in die Geschichtsbücher als „Kristallnacht“ einging.
Ich war also im November 1938 in Polen und half dort die meist jüdischen Vertriebenen in Familien und Wohnungen unterzubringen. Nun war es so, daß meine Kenntnisse der polnischen Sprache sehr gering waren. Wie konnte ich mich mit den Polen verständigen? Bevor ich in Wien verhaftet wurde war ich mit meinem Bruder Ernst 6 Jahre lang in Italien und konnte auch die Sprache sehr gut. Italien und Polen verband damals ein Freundschaftsvertrag und viele polnische Frauen lernten die italienische Sprache, einige dieser Damen waren meine ‘Schülerinnen’. Ich war der Übersetzer zwischen Deutschen und Polen und bediente mich dabei der italienischen Sprache. In den Jahren die ich in Italien verbracht, habe ich niemals auch nur einen getroffen, der polnisch sprach.
Aus Zeitungen und von Deutschsprachigen habe ich erst einige Tage später von dem Ausmaß dieses Pogroms erfahren. An manchen Raubzügen von damals arbeiten heute noch die Gerichte.
Marko Feingold
November 2017
Hofrat Marko Feingold ist Präsident der Israelitischen Kultusgemeine Salzburg und derzeit ältester amtierender Präsident einer Israelitischen Kultusgemeinde in Österreich mit sehr großer Lebenserfahrung.
Danke für die wichtigen Worte mit für mich neuen historischen Hintergründen. Außerdem darf ich mitteilen, es gibt inzwischen auch in Italien Leute, die Polnisch sprechen.