Vor 100 Jahren – Gründung der RSFSR – Debüt des Staatsatheismus 3


Googelt man „erster atheistischer Staat der Welt“, so stößt man auf zig Artikel, Seiten und Links, die auf die Sozialistische Volksrepublik Albanien (1944–1990) verlinken, was natürlich auch per se nicht falsch ist, allerdings bezieht man sich hier eher auf die triviale Tatsache, dass 1967 die SVR Albanien wortwörtlich in der Verfassung betonte, das erste atheistische Land der Welt zu sein.

Aber de facto war in der Praxis die erste staatsatheistische* Nation die RSFSR.

Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau (Marco Verch, CC BY 4.0, Link)

RSFSR ist eine Abkürzung, welche die meisten Menschen nicht wirklich einordnen können. Es handelt sich hierbei trotz aller Intuition weder um eine BDSM-Praktik noch um einen hippen Millennials-Energydrink.

Die RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) war der Nachfolgestaat des Russischen Zarenreiches, welchen V.I. Lenin 1917 zwei Tage nach der erfolgreichen Oktoberrevolution ausrief. (Die Gründung der Sowjetunion und die Eingliederung der RSFSR als Teilrepublik in diesen Staatenverband erfolgte erst Ende Dezember 1922**.)

Die RSFSR wurde gestern vor 100 Jahren gegründet***, und auch wenn zu diesem Zeitpunkt der russische Bürgerkrieg zwischen der Roten Armee und den Weißen Garden noch gar nicht wirklich begonnen hatte und die Weiterexistenz dieses Staates noch in großer Unsicherheit schwebte, so wissen wir heute retrospektiv, dass dieser Staat zuerst einzeln und dann im Rahmen des totalitären Staatenbundes der Sowjetunion bis Ende 1991 fortbestehen konnte.

Also ungefähr 74 Jahre.

Genug Zeit, um einen bleibenden Eindruck auf der Weltbühne zu hinterlassen, und ideologisch, zeitgeschichtlich und auf viele andere Weisen ist dies ohne Zweifel geschehen. Die Folgen der Oktoberrevolution und die Kinder dieser, der Marxismus-Leninismus und die RSFSR, haben zum Guten und zum Schlechten den Lauf der Geschichte für immer verändert.

Im Rahmen der revolutionären Herbstereignisse von 1917 wurde allerdings mit der Schaffung der RSFSR nicht nur das erste realsozialistische**** Land, sondern auch die erste offiziell staatsatheistische Nation gegründet.

Dies stellte im Hinblick auf auf staatlich forcierte Ideologien in der Menschheitsgeschichte ein absolutes Novum dar, da bis zu diesem Zeitpunkt die Mehrzahl aller Staaten mehr oder weniger eine Staatsreligion hatte, die je nachdem unterschiedlich forciert wurde; bis zum Jahre 1917 gab es nur einige wenige Säkularstaaten (einer der ersten Säkularstaaten waren die kurzlebige Korsische Republik1755–1769, zu einem gewissen Grade die Dritte Französische Republik oder auch die USA um 1917 herum), aber kein Staat hatte offiziell eine strikt atheistisch-materialistische Ideologie zur Staatsdoktrin erklärt.

Dieses Novum war Ende 1917 nun eingetreten.

Religiösen Glauben anzugreifen wurde zu einer absoluten Pflicht für Lenin, von antireligiöser Legislation über die Diskriminierung von Religiösen bis hin zu Festnahmen und gewalttätigen Terrorkampagnen. Die Unterdrückung der Religion wurde zu einer der Hauptprioritäten dieses neuen Russlands.

Marxismus-Leninismus sieht Religion als das Opium des Volkes an, welches Akzeptanz gegenüber den irdischen Leiden propagiert, in der Hoffnung auf ewige Belohnung im Jenseits. Deswegen vertritt der Marxismus-Leninismus und infolgedessen auch das ausübende Organ dieser Ideologie, der Sowjetstaat, die Position, dass die Abschaffung aller Religion notwedig sei. Die Religion zu kritisieren (und später direkt anzugreifen) war viel wichtiger für Lenin als es jemals für Marx war, auch wenn er dadurch sympathisierende religiöse oder religiös-sympathisierende Linke gegenüber der bolschewistischen Sache abspenstig machte.

Ein Jahr nach der Oktoberrevolution enteignete der Staat die Russisch-Orthodoxe Kirche, viele Tausende von Priestern, kirchlichen Würdenträgern und Gläubigen wurden inhaftiert oder zu Zwangsarbeit verurteilt, Hunderte wurden hingerichtet. Nach Stalins Machtübernahme nahm diese Art der Verfolgung noch rasant zu.

Die sowjetische Nomenklatura versuchte oftmals auf verschiede Arten, die Bevölkerung von ihrem Glauben abzubringen, wobei die Arten von Diskriminierung von Religiösen über Anitreligionskampagnen bis hin zur Verfolgung reichten. Später wurde dies in der ideologischen Rhetorik des sowjetischen Weltraumprogrammes offensichtlich. Man war der Ansicht, dass nun auch die widerstrebensten Anhänger von Religion und Aberglaube die sowjetisch-materialistische Weltanschauung annehmen würden. Allerdings hatten die Unternehmungen der UdSSR-Weltraumfahrt schlussendlich nicht wirklich diesen Effekt, die meisten Sowjetbürger sahen keine Verbindung zwischen Raumfahrt und der Nicht-Existenz Gottes.

Man muss aber anmerken, dass hier die Einstellungen im frühen Sowjetstaat auch nicht gerade einheitlich waren. So ist hier die Position des Sowjet- Volkskommissars für Aufklärung und Bildung, Anatoli Lunarscharski, zu erwähnen, welcher mit seinen Ideen für einen humanistisch und religiös inspirierten Kommunismus oftmals Lenin erzürnte.

Dennoch war die religionsfeindliche Natur des Sowjetstaates nicht zu verleugnen, und unzählige aufrichtige Gläubige mussten so großes Leid oder den Tod erfahren. Dieses hundertjährige Jubiläum der Gründung der RSFSR sollte daran erinnern, wie gefährlich die Ideen von Staatsreligion, Staatsdoktrin oder in diesem Falle des Staatsatheismus’ sind.

Trotzdem sollte man auch das emanzipatorische Potential der Oktoberrevolution ansprechen, die pro-forma Aufwertung von Bauern, Arbeitern und Soldaten, die enorme Verbesserung der Konditionen für Frauen, die Alphabetisierung des Landes und andere positive Aspekte. Ob die tragische Degeneration des sowjetischen Projektes nun inhärent von Anfang an zum Scheitern verurteilt war oder an einem gewissen Zeitpunkt eine falsche Abzweigung genommen hatte, das ist weiterhin ein Thema vieler Debatten. Fest steht jedenfalls, es kam wie es kam.

Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den Persönlichkeiten der Oktoberrevolution und mit der komplexen Angelegenheit der Sowjetideologie sollen ein andermal folgen, diesmal sei jedoch noch eines angemerkt:

Staatliche Absolutheitsansprüche, auch in Bezug auf (forcierten) Atheismus, sind mit höchster Vorsicht zu genießen, und wir sollten aus diesem Staatsdoktrin-Debakel lernen. Das destruktive Potential, versteckt in der Idee des Staatsatheismus, ist so verheißungsvoll wie gefährlich.

 

Internetquellen für mehr Einzelheiten zum Nachlesen:

Fußnoten

* Ich habe absichtlich den Begriff “Staatsatheismus” gewählt, da der Begriff “Atheistischer Staat” m. E. zu vage und undefiniert ist. Sonst könnte man dann u.a. Länder wie die Tschechische Republik oder Estland als (mehrheitlich) atheistische Staaten bezeichnen.

Auch ist der Begriff “Staatsatheismus” vom Staatssäkularismus und allgemeinen Säkularismus abzugrenzen, da sie einander trotz einiger Überschneidungen in Vielem massiv widersprechen.

** Erst nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges zwischen den Bolschewiki und den Weißen Garden folgte im Dezember 1922 der Zusammenschluss der damaligen 4 Hauptsowjetrepubiken, nämlich der eben vorhin genannten RSFSR, der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR), der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) und der Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (TSFSR), zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), kurz “Sowjetunion”. Diese Teilrepubliken-Zusammensetzung der UdSSR hat sich im Laufe der Geschichte der Sowjetunion noch mehrmals geändert.

*** Allerdings hatte dieser neue Staat in den ersten beiden Monaten keinen offiziellen Namen, erst beim 3. Allrussischen Sowjetkongress Ende Januar entschied man sich für den Namen Russische Sowjetrepublik. Erst eineinhalb Jahre später, in der Russischen Verfassung von 1918, erhielt der Staat seinen endgültigen Namen Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik.

**** Die Meinungen dazu, wie man ideologisch und staatssystemisch die kolloquial genannten “Kommunistischen Staaten” nun wirklich benennen sollte (schließlich hat nach marxistischer Theorie noch kein Land das kommunistische Endstadium erreicht), gehen stark außeneinander. Von “kommunistisch” über “sozialistisch”, “staatsozialistisch” bis “staatskapitalistisch” schwirren viele Begriffe in der Politikwissenschaftssphäre herum. Ich persönlich bevorzuge den Begriff “Realsozialismus”, trotz seiner verschiedenen Konnotationen.

Bild/Image: “Lenin Mausoleum / Lenin Mausoleum” by Marco Verch is licensed under CC BY 4.0


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