Spaziergang mit Martin … 1


Endlich wieder schreiben. Zwischen Seiten ist keine Zeile vergangen, aber zwischen den Sekunden waren es Monate. Das echte Leben, sofern das andere das echte Leben sein soll, hat mich voll in Anspruch genommen.

Es hat mich nicht davon abgehalten, Stunden vor dem Computer zu verbringen, aber doch nicht die Freiheit zugestanden, sie schreibend zu verbringen. Ich hatte den Kopf nicht frei. Nun habe ich ihn jetzt. Denke ich. Also wird es wohl so sein.

Das Dasein durchleuchten

Gerade habe ich meinen gnostischen Freund zum Spaziergang getroffen, und während die Beine sich bewegten, war es ein seelisches Fußbad. Wir haben mit Bier und Jause den Frühling am Hang genossen, über das Land und seine Leute hinweg geschaut, und über die Sorgen des Alltags aus der Adlerperspektive spekuliert. Wir haben das Dasein durchleuchtet und den Frieden damit verhandelt, dass wir trotz aller Bemühungen niemals das All des Daseins begreifen können. Wir sind kleine Leuchten des Bewusstseins, die die Unendlichkeit des Kosmos durchschreiten, und mal hier mal da ein kleines bisschen Aufmerksamkeit wirken lassen können. Wir sind so klein, und doch sind wir, das kann uns keiner nehmen. Wir sind Weise im Werden, so wollen wir uns zumindest sehen, während unsere familiären Pflichten uns davon abhalten, wie die Paradephilosophen nur für die eine Sache zu leben und den ganzen Tag der Klugscheißerei zu widmen. Spricht der Neid? Sagen wir so: Zwischendurch wirft er auch ein Wort in die Debatte ein, zum Beispiel Klugscheißerei.

Wir haben uns entschieden für ein Leben mit Familie. Für ein Leben mit Verantwortung für andere. Wir haben uns entschieden für ein Leben, das verankert ist in der täglichen Hingabe für andere, die Zeit bindet, die wir nicht in die reine Lehre stecken können. Wir haben uns geankert in einer Realität, die auch auf uns wirkt, wenn wir sie nicht durchschaut haben. Sie ist der Grund, warum es Monate dauern kann zwischen Schreiben und Schreiben. Sie ist der Grund, warum ein einflussreicher Teil der Philosophen, die man so liest kinderlos und oder sehr privilegiert sind, weil die anderen weniger zum Schreiben kommen. Wir sind weder das eine, vielleicht ein bisschen vom anderen. Wir haben versucht, unsere Position im Kosmos zu begreifen. Wir sind gespannt durch die Ambiguität zwischen Sein und Sollen und Wollen. Was wollen wir? Was dürfen wir hoffen?

Wir haben eskapistische Züge, aber wir streben den Eskapismus nicht an. Wir haben uns bewusst entschieden, und wollen unserer Entscheidung treu bleiben. Die Gründe sind solide. Das Leben bisweilen herausfordernd. Taugt die Weisheit der Weltentsager für uns? Oder brauchen wir unsere eigene Weisheit? Die Weisheit der Mütter und Väter? Die Weisheit der liebenden Angehörigen, die nicht nur der Sache, sondern vor allem ihren Mitmenschen ihre Aufmerksamkeit geben? Wir brauchen die Rollenvorbilder, und bemühen uns Rollenvorbilder zu sein, für all die, die beides wollen: Erkenntnis und Familie.

Frühlingsfest und Ferien

Es war eine heilige Zeit, konkret das Frühlingsfest mit seinen Ferien, die es mir ermöglicht hat, an den Laichplatz zu kommen, um mit den anderen Freunden meiner Jugend die Metamorphosen zu reflektieren, die wir durchgemacht haben. Es ist ein traumhafter Ort, aufgeladen mit Projektionen und verklärten Erinnerungen an eine Zeit, als die Welt, vor allem aber ich selbst noch jünger war. Der Ort dient als Spiegel, weil er weitestgehend unbefleckt ist vom Schmutz der täglichen Verrichtungen. Es ist ein Sehnsuchtsort, weil er so rein ist, und er ist unerreichbar, denn würde ich mich seiner Versuchung ergeben, ich würde ihn mit Notwendigkeit verunreinigen.

Ja, wir haben uns heute zu dritt getroffen, und alle drei haben wir die Heimat verlassen. Aus drei Ecken der Welt haben wir uns hier zusammengefunden, als vertraute Fremde, die wir die Heimat in uns und in einander tragen.

Sehnsucht

Meine eigene Sehnsucht nach dem Früher ist Teil von mir. Bisweilen quält sie mich, wenn das Heute mit seinen Ansprüchen mich beschwert. Doch gerade heute im Gespräch hat sich ein schönes mythologisches Bild gezeigt, das den Umgang damit erleichtert: Odysseus stellte sich dem wunderschönen aber vernichtenden Sirenengesang indem er sich an den Mast seines Schiffes binden ließ. Seinen Seeleuten verstopfte er die Ohren, sodass sie für den Gesang unempfänglich waren. Sich selbst band er die Hände, sodass er ihnen keine Befehle geben könne. So näherte er sich den Sirenen, wurde durch die verheißungsvolle Schönheit ihres Gesangs beinahe um den Verstand gebracht, konnte genießen und schmolz in Wehmut, ohne sich jedoch der Vernichtung preiszugeben, die es bedeutet hätte, wäre er ihrem Ruf gefolgt. So ähnlich will ich es mit dem Heimweh halten: Den Ruf zulassen, die Nostalgie spüren, aber mir die Hände durch die Realität und durch die Schwüre binden lassen, die ich meiner neuen Heimat geleistet habe. Ich werde immer der Sohn meiner Heimat sein. Aber ich bin Vater in einer anderen Welt, bin Bauer in einer anderen Welt und hüte dort meine Schäfchen. Die Heimat bleibt ein Teil von mir. Die Sehnsucht und die Wehmut bleiben ein Teil von mir. Sie dürfen mich rühren, dürfen mich bewegen, aber ich lasse nicht zu, dass sie mich vernichten. Wir haben heute die Religion diskutiert, mit ihren gefährlichen, zerstörerischen und unterdrückerischen Seiten.

Wir haben heute die Religion diskutiert, die die heiligen Zeiten schafft, die die Rituale ermöglicht, in denen man sich dem schmutzigen Heiligen nähern kann, ohne von ihm gänzlich verdorben zu werden. Wir haben darüber gesprochen, wie wichtig das Ritual ist, weil es ermöglicht, den Rausch zu haben, ohne sich gänzlich zu verlieren. Wir haben erörtert, wie die Fastenzeit dazu dient, die Herrschaft gegenüber dem Genussmittel zu behaupten.

Wir waren Wanderer, Suchende, die für einen Moment aus ihrem Alltag und seinen Bindungen ausgebrochen waren – in einem Ritual geschenkter Zeit – um eben diesen Alltag zu reflektieren, ihn in einem besonderen Licht zu betrachten. Wir haben unsere ontologische und ethische Brille geputzt, um fortan die Zeichen der Zeit besser deuten können. Wir haben uns der Verantwortung für kurze Zeit entledigt, um sie nachher mit frischer Kraft besser tragen zu können.

Dafür bin ich dankbar. Und ob die Zeit im Zirkel läuft, oder in eine Richtung, oder ob die Zeit nur eine Illusion sein mag: Dieser Moment hat existiert, und auch wenn er vergangen ist, kann er nicht ungeschehen sein.

Freundschaft!


Über Nikolaus Bösch-Weiss

Seit ca. 10 Jahren ist Nikolaus Bösch-Weiss bei der Atheistischen Religionsgesellschaft. Dabei interessiert er sich sowohl für die theoretischen und philosophischen Verwinklungen , als auch für deren praktische Umsetzung. Als Landbewohner mit Migrationshintergrund aus der Stadt versucht er Brücken zu bauen, und verschiedene Zugänge zusammen zu führen.

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