Der Artikel “Atheistische Seelsorge” von Wilfried Apfalter, Nikolaus Bösch-Weiss und Wolfgang Ebner ist im deutschen Fachmagazin “Leidfaden” (12:2, 2023, 9-13) vor einem Jahr erschienen. Im konkreten Fall bedeutet das, dass wir diesen Artikel daher nun auch etwa hier auf der Homepage unserer Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) online zugänglich machen dürfen.
Was kann Seelsorge sein?
Eine grundlegende Gemeinsamkeit aller Atheist:innen besteht darin, dass sie nicht an einen Gott beziehungsweise Göttinnen und Götter glauben (das altgriechische Adjektiv átheos bedeutet in etwa so viel wie „gottlos, ohne Gott“, siehe zum Beispiel Apfalter 2019, S. 34). Seelsorge wiederum (altgriechisch zum Beispiel epiméleia tes psychés, „Sorge/Sichkümmern um die Seele“) setzt weder eine unsterbliche Seele noch ein(en) Glauben an eine unsterbliche Seele voraus. Das tun ja auch Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie nicht. Insofern muss es nicht verwundern, dass wir Seelsorge auch ohne Gott denken können.
Eine Frage, die häufig gestellt wird, wenn wir von Seelsorge sprechen, ist diese: „Wenn ihr Seelsorge ohne Gott machen wollt: warum nicht einfach Psychotherapie?“ Die Gegenfrage könnte lauten: „Warum nur Psychotherapie?“ Wir wollen damit den Wert von Psychotherapie nicht in Frage stellen. Aber sie ist doch ein eher spezielles Setting, das viele Menschen erst in Anspruch nehmen, wenn der Leidensdruck bereits groß ist. Außerdem ist Psychotherapie (in Österreich) häufig teuer und für Viele allein deswegen schwer zugänglich. Und es gibt Fragen, die in einer Psychotherapie schon allein aus berufsethischen Gründen eher keinen Platz haben, und solche, wo sie schlicht nicht das gelindeste Mittel ist. Das alles bedeutet: Neben Psychotherapie bleibt recht viel Platz für Seelsorge, die nicht Psychotherapie ist.
Aus unserer atheistischen Perspektive sollte auch eine Seelsorge, die nicht an einen Gott oder eine unsterbliche Seele inklusive Folgen in einem Jenseits glaubt, Räume bieten können, in denen man sich aus dem Alltag zurückziehen kann, um sein eigenes und auch anderes Leben zu reflektieren und möglicherweise mit anderen darüber zu sprechen.
Mit Seele meinen wir hier etwas, das sehr vieles umfasst – vom Erleben von Gefühlen, Emotionen und so weiter über unser Ich als narratives Gravitationszentrum der Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns erzählen, bis hin zu all den mentalen Bereichen unserer Einschätzungen, Überzeugungen und Werthaltungen, Erwartungen, Wünsche –, also in weiterem Sinne unsere eigenen Positionierungen und Verortungen in Raum und Zeit, in Beziehungen zu Anderen und Anderem, und vieles mehr. Die Seele ist so gesehen auch der Sitz der Erzählungen, der Überzeugungen und Glaubenssätze, die jeder Mensch über sich selbst und über die Welt, in der er lebt, unterhält. Seelsorge bedeutet dann auch, ein Arbeiten an und mit diesen Erzählungen und so weiter zu unterstützen. Also Sichtweisen und Argumente anzubieten, die dabei helfen, die eigene und die gemeinsame Aufmerksamkeit auf solche Fragen zu richten.
Als Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) verorten wir uns Menschen als evolutionär entstandene und stark kulturell mitgeprägte Lebewesen, die auf vielfache Weise mit einer ebenso gestalteten Welt verbunden und ebenso in diese Welt, die weit über uns hinausgeht, eingebunden sind. Dabei blenden wir auch den Tod nicht aus.
Gute Seelsorge ist eine Art von verantwortungsbewusst praktizierter, wirksam unterstützender Wegbegleitung. So gesehen verschwindet jeder scheinbare Widerspruch zwischen Atheismus und Seelsorge.
Atheismus und Religion
Unserer Einschätzung nach ist Religion ein kultureller Raum, in dem existenzielle Fragen gestellt und Antwortversuche erarbeitet werden können; ebenso eine lebenspraktische Verbindung zwischen uns Menschen und unserem Dasein im Großen. Als ARG wollen wir unsere eigenen Antworten ohne Bezugnahme auf „Gott“ finden. Ausgehend von diesen Fragen, die wir religiös aufarbeiten, entwickeln wir uns und unsere Praxis gemeinsam weiter. Die ARG will hier als Religionsgesellschaft einen religionsgesellschaftlichen Rahmen entwerfen, um etwa gemeinsam zu lernen und zu forschen, welche Erzählungen (Narrative) für uns und andere hilfreich sind und die Lebenszufriedenheit erhöhen können, zum Beispiel in Form von Ritualen und Feiern.
Eine andere oft gestellte Frage wollen wir ebenfalls kurz ansprechen: „Ist Atheismus (denn) eine Religion“? Dazu gibt es zwei verbreitete Ansätze: „Ja – denn die Aussage, dass es keinen Gott gibt, ist auch eine Glaubensaussage“ und „Nein – denn Atheisten glauben nicht an Gott und das Jenseits, dementsprechend verleugnen sie die Grundlagen der Religion.“ Wir vertreten hier eine andere Position: Atheismus selbst ist keine Religion. Dennoch ist atheistische Religion möglich. Wir vertreten diese Position deshalb, weil wir Religion nicht vom Glauben an einen oder mehrere Götter abhängig machen, sondern von der Bearbeitung des Verhältnisses zwischen uns und unserer Einbettung in das, was uns übersteigt („transzendiert“). Es mag Theist:innen und Atheist:innen geben, die eine Antwort auf die Frage nach Gott haben, aber sich nicht um die großen Fragen des Daseins kümmern. Diese Menschen würden wir als eher nicht sehr religiös bezeichnen. Und es mag Theist:innen und Atheist:innen geben, die sich mit der Frage befassen und ihr Handeln danach ausrichten, wie ihre eigene Existenz im Weltgefüge zu verorten ist. Diese Menschen würden wir viel eher als religiös bezeichnen.
Natürlich gibt es auch für eine atheistische Seelsorge die große Herausforderung eines möglichst „guten“ Umgangs mit unserer Sterblichkeit, einschließlich Unterstützung beim Gestalten eines Begräbnisses beziehungsweise einer Verabschiedungs- oder Trauerfeier. Die Religionslehre der ARG bezieht sich auch auf den Tod. In ihrem Absatz 9 heißt es:[1] „Wir betrachten den Tod als das unumkehrbare Ende unseres Daseins als aktive, wahrnehmende und empfindende Wesen. Daher sehen wir das Totsein als einen Zustand, in dem kein Leid empfunden wird.“ Diesem Teil der Lehre lässt sich unter anderem eine ernstgemeinte Einladung entnehmen, keine Angst vor einem Jenseits nach dem Tod zu haben. Denn das, was nach unserem Tod ist, kann uns dann ja – aus der Perspektive der ARG – kein Leid mehr zufügen. Wenn die Vorstellung unseres eigenen Nicht-Seins Leid bereitet, dann vielleicht als schmerzvolle gedankliche Vergegenwärtigung nicht ergriffener Chancen und als aktuelle Reue, etwas getan oder unterlassen zu haben, das sich dann leider nicht mehr korrigieren lässt; dann erleiden wir das alles aber nicht nach unserem Tod, sondern jetzt, während wir leben. Nach unserem Tod können wir nichts mehr erleben und nichts mehr aktiv beeinflussen. Nach unserem Tod ist das Leben für uns endgültig und unumkehrbar zu Ende. Das ist das besonders Schreckliche am Tod: seine Unumkehrbarkeit und damit Endgültigkeit, wenn er einmal wirklich eingetreten ist. Auch wenn wir nicht an unser Weiterleben nach unserem Tod glauben, kann das, was wir über den Tod denken, unsere Lebensführung beeinflussen. Die Frage etwa, wie man sich an mich erinnern wird, kann wichtig sein. Sie kann mich dazu bewegen, bestimmte Dinge zu tun oder zu lassen. Gute Seelsorge erinnert uns auch daran, wie wir anspruchsvollerweise sein könnten.
Seelsorge als Arbeiten an einem realistischen und gleichzeitig hilfreichen Blick auf die Welt und auf uns selbst in ihr – wer ein umfassendes Wissen über die Welt hat, der fühlt sich vielleicht etwas weniger ausgeliefert und etwas mehr als ein aktiver Teil von ihr. Wer gelernt hat, den Tod nicht völlig auszublenden, den überkommt die Trauer eventuell nicht so unvorbereitet. Einer guten Seelsorge kann es gelingen, hilfreiche Erzählungen und Impulse in den Alltag sehr vieler Menschen einzubringen.
Eine Herausforderung: Stärkung von Ambiguitätstoleranz
Die Welt ist voller Wunder und voller Schrecklichkeiten. Beides. Und mitunter bietet ein Teil dieser Welt beides gleichzeitig. Auch die Stärkung einer Ambiguitätstoleranz erscheint uns daher erstrebenswert. Eine gute Seelsorge ist dementsprechend tatsächlich sehr herausfordernd. Natürlich auch für die ARG. Gleichzeitig ist das aber eine große Chance, über uns hinauszuwachsen.
Ebenso betrachten wir es als Herausforderung, „bessere“ Perspektiven zu vermitteln, beim Glücklichwerden zu unterstützen, gute Impulse für die Gesellschaft insgesamt zu entwickeln. Und das eben aus konkreten atheistischen Erfahrungen beziehungsweise Erfahrungen von Atheist:innen heraus – den Erfahrungen einer Minderheit. Eine weitblickende atheistische Seelsorge kann uns allen konstruktive, gute Impulse geben. Sie ist damit ein Beitrag zum Gemeinwohl und ein wertvoller Dienst an der Gesellschaft.
Die ARG versteht ernsthaften, weltoffen gelebten (inter-) (religiösen) Dialog als eine religiöse Aktivität. Im Absatz 7 ihrer Religionslehre ist zu lesen:[2] „Dialog mit anderen und andersdenkenden Menschen hilft uns, unser eigenes Leben in einem breiteren Zusammenhang zu sehen und zu verstehen. Indem wir uns auf die Welten anderer Menschen einlassen, transzendieren wir unseren eigenen Erfahrungshorizont.“
Schon seit einiger Zeit unterstützt die ARG je nach Bedarf und Möglichkeit Mitglieder dabei, dass atheistische Überzeugungen in österreichischen Asylverfahren wahr- und ernstgenommen werden. Auch das ist eine Form atheistischer Seelsorge – eine, die in mehrfacher Hinsicht mit existenziellen Fragen zu tun hat. Ebenso war die ARG bereits mehrmals eingebunden in die Ausbildung von Ethik-Lehrer:innen zum Thema „Umgang mit dem Lebensende“.[3]
Alltagsbewältigung, Sinnperspektive, Resilienzstärkung, Beistand, Erleichterung verschaffen durch Gemeinsamkeit, gute Erfahrungen ermöglichen (indem zum Beispiel Trauer oder Freude anerkannt werden) – atheistische Seelsorge kann vieles sein! Der Bogen der Möglichkeiten ihrer Verwirklichung ist weit gefächert. Er reicht von individueller Begleitung und Gemeinschaftsentwicklung bis hin zum Schreiben von Büchern und zum (Weiter-) Entwickeln und kritischen Überprüfen von atheistischen Perspektiven.
Atheistische Seelsorge bedeutet im Fall der ARG, aus der grundsätzlichen Orientierung und Lehre der ARG heraus Menschen zu begleiten – wie immer das jeweils konkret verwirklicht wird – und die diesbezüglichen Erfahrungen für eine möglichst gute Weiterentwicklung der ARG und ihrer Lehre aufzuarbeiten und zur Verfügung zu stellen. Sie ist damit immer auch ein wechselseitiges Geben und Nehmen.
Am 30. Dezember 2019 hat die ARG beim österreichischen Kultusamt einen Eintragungsantrag nach dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz (BekGG, „Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften“) gestellt. In den Erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage zum BekGG wird Transzendenzbezug als wichtiges Kriterium zur rechtlichen Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion festgelegt: „Religion: Historisch gewachsenes Gefüge von inhaltlich darstellbaren Überzeugungen, die Mensch und Welt in ihrem Transzendenzbezug deuten sowie mit spezifischen Riten, Symbolen und den Grundlehren entsprechenden Handlungsorientierungen begleiten“ (Apfalter 2020). Aktuell befindet sich das Verfahren auf dem Rechtsmittelweg. Es wirft nicht zuletzt grundlegende Fragen zur Religionsfreiheit auf. Gehört zum Kernbereich von Religionsfreiheit auch die Freiheit, sich ein eigenes religiöses Transzendenzverständnis zu erarbeiten und auf dessen Grundlage ein eigenes religiöses Transzendenzverhältnis zu entwickeln?
Der Genetiker John Haldane hat einmal vier Phasen des Akzeptierens beschrieben:
„1. This is worthless nonsense,
2. This is an interesting, but perverse, point of view,
3. This is true, but quite unimportant,
4. I always said so.”
Literatur:
Apfalter, W. (2019). Griechische Terminologie. Einführung und Grundwissen für das Philosophiestudium. Freiburg/München.
Apfalter, W. (2020). Is an atheist religion in Austria legally possible? In: Journal of Law, Religion and State, Bd. 8, S. 93–123.
Haldane, J. (1963). Review »The truth about death«. In: Journal of Genetics, Bd. 58, S. 464.
Anmerkungen:
[1] § 2 Absatz 9 der ARG-Statuten in der Fassung vom 13. April 2018, siehe https://atheistisch.at/organisation/statuten/.
[2] § 2 Absatz 7 der ARG-Statuten in der Fassung vom 13. April 2018, siehe https://atheistisch.at/organisation/statuten/.
[3] Im Rahmen des Hochschullehrgangs/Zertifikatskurses Ethik der Pädagogischen Hochschulen KPH Wien/Krems und PH Wien und seines Grundmoduls „Ethik im Spannungsfeld von Religionen und Kulturen“ in der Vorlesung „Religionen und deren Ethos“ von Prof. Wolfram Reiss und Robert Wurzrainer (Lehrstuhl für Religionswissenschaft am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien).