Kann es “Heiliges” auch ohne Gott geben? Und sollte es das? Meine These: Ein Begriff des Heiligen kann für ein atheistisches Leben sinnvoll und bereichernd sein.
Kritik am Konzept “Heilig”
Ein Vorwurf gegenüber Atheisten ist ja, dass uns nichts heilig wäre, und gewissermaßen ist das ja auch ein Kompliment an eine Menschheit, die Fortschritt erleben und erschaffen will. Wer zu sehr an alten -heiligen- Überzeugungen festhält und nicht bereit ist, sie zu hinterfragen, wird immer auch gehemmt sein. Gerade für die Medizin war es unvorstellbar wichtig, dass tote Körper seziert werden dürfen, um Mediziner:innen Einblick in die Anatomie zu geben.
Grundsätzlich ist es also gut, wenn im Rahmen der Wissenschaft und der Frage der besseren Erkenntnis und des besseren Verständnisses auch bisher Heiliges hinterfragt werden kann.
Heißt das notwendig, dass es kein Heiliges mehr geben soll? Oder dass wir die Funktion und Rolle des Heiligen eventuell neu denken sollten?
Manche Atheisten und Fortschrittsmenschen haben sich aus Gründen der Religionskritik zur Haltung gemacht, alles, was von Religion kommt prinzipiell abzulehnen, und die Umwertung aller Werte zu ihrem Schild und Schwert zu schmieden. Demnach wäre auch der Begriff des Heiligen ein veraltetes Konzept, das die Menschen in ihrem Fortschritt zurückhält und deswegen beseitigt werden sollte.
Die Kirche betreibt weiters einen Heiligenkult, in dem Sie Menschen von höchst zweifelhaftem Tatenruhm in besondere Höhen erhebt und zu Propaganda- und Netzwerk-Zwecken benutzt. (Heiliger Martin, Heiliger Kyrill von Alexandria, Heilige Teresa von Kalkutta und Seliger Karl Habsburg …).
Fangen wir beim Einfachen an: Manche Menschen zu Heiligen zu erklären dient der Erzeugung von Hierarchien, die ich nicht haben will. Brauchen wir sie wirklich? Alain de Botton hat dazu ein paar interessante Ideen formuliert, die durchaus für eine Art Heiligenkult sprechen, die er im Interesse an Promis ohnehin verwirklicht sieht (Saint Nataly of taking your children to the park), aber im Großen und Ganzen können wir – denke ich – auf die Betrachtung von Menschen als Heilige verzichten.
Kann “Heilig” auch für Atheistinnen und Atheisten ein sinnvoller Begriff sein?
Anders aber die Frage: Sind Menschen allgemein etwas Heiliges? Also nicht ist Franz der Heilige Franz, aber betrachten wir Menschen als eine besondere Form des Daseins, der etwas Besonderes, etwas Heiliges innewohnt? Immanuel Kant meinte, der Mensch dürfe nicht zum Mittel zum Zweck werden. Er müsse selbst Zweck bleiben. Ich denke, dem kann man zustimmen, und ich denke, das könnte man als eine Art des Heiligen betrachten. Die Menschenrechte fangen eine besondere Art des Daseins ein, die wir anderen Materie-Klumpen nicht ohne weiteres zugestehen würden. Ist Menschenwürde heilig? Oder ist sie gar eine Art von Heiligkeit? Kann das Heilige eine soziale Größe sein?
Weiters ist eine Auffassung weit verbreitet, dass es zentrales Merkmal von Religion sei, das Heilige vom Profanen zu trennen. Gut, indem ich das Heilige zum Heiligen erkläre, trenne ich es automatisch vom Profanen als demjenigen, das ich nicht zum Heiligen erkläre. Hieße demnach: Religion ist eine Ordnung der Welt, die Heiliges benennt. Lohnt es sich, hier auch als Atheist genauer hinzuschauen?
Ich denke auch hier an de Botton, oder an Pfaller oder an andere spannende Autoren, die Religion als eine symbolische Ordnung vorschlagen, die den Menschen an das Feiern erinnert, dass also der Kalender mit den heiligen Tagen einen Kern der Religion ausmacht und eben auch, dass es Kernelement von Religion wäre, das zu benennen, was gefeiert werden muss, uns also an Freude und Dankbarkeit zu erinnern. Das klingt im Prinzip ganz schön und ist vielleicht einer der Gründe, warum Religionen weiter bestehen, auch wenn der Glaube rein logisch oft schwer zu halten ist.
In einem Alltag, in dem alles zur Ressource wird (Zeit = Geld) laufen wir Gefahr, das eigene Leben als Input in eine Maschine zu interpretieren. Ökonomische Optimierung oder Maximierung nimmt meistens keine Rücksicht auf „das Heilige“, was auch immer das jetzt im Detail sei.
Angelehnt an die Überlegungen aus dem Buch: „Wofür es sich zu Leben lohnt, Elemente materialistischer Philosophie“ könnte man dem Gedanken folgen: Was sind die Lebensbereiche die dem nackten Überleben dienen und welche dienen dem guten Leben – dem Leben, das wir als “Lebendig sein” bezeichnen würden? Ich merke beim Schreiben, dass die Alltags-Sprache zum benennen dieser Unterschiede etwas grob scheint, weil “leben” und “lebendig sein” im Prinzip das gleiche Bedeuten, aber man damit auch einen Unterschied im Erleben ausdrücken kann.
Leben: profane Ressource oder heiliger Selbstzweck?
Wie organisieren wir einerseits die Abdeckung der Überlebensbedürfnisse unseres leiblichen Wohls? Hier sind wir bei der Ökonomie, wo Effizienzgewinne zu höherem Lebensstandard führen können, sofern sie gerecht verteilt werden.
Die Ökonomie, wenn sie nicht begrenzt wird, unterwirft aber alles ihrer Aneignung. Alles wird in Geld umgerechnet und verwertet, und das gilt sowohl für die Natur, als auch für die Menschheit selbst. Ein Studium der Philosophie oder die Beschäftigung mit Kunst und Ausdruck sind in den meisten ökonomischen Theorien gerade so viel Wert wie sie sich am Markt verkaufen lassen. Da kommt mir das Bild aus Pink Floyds „Another Brick in the Wall“ in den Sinn: Um in diesem Bild zu funktionieren wird dem Menschen jede Farbe und jede Einzigartigkeit genommen. Die Bildung unserer nächsten Generation, die Formung der Menschheit der Zukunft wird auf ökonomische Kriterien hin ausgerichtet. Das soll nicht nur einseitig kritisch betrachtet werden: Es gibt zahlreiche Prozesse in denen diese Logik zu besserer Versorgung mit Lebensmitteln und Medizin führen kann. Die Frage ist: Darf diese Denkweise 100% unseres Lebens beherrschen?
Dem gegenüber steht demnach das, wofür es sich zu leben lohnt: Es sind Momente, in denen wir die Lebensfreude fühlen, in denen wir deutlich spüren, dass wir lebendig sind. Das können kleine Rituale sein, wie eine Kaffeepause mit Freundinnen oder Kollegen, aber auch Feiertage wie Weihnachten, Geburtstage, Initiationsriten und Riten des Übergangs.
Viele dieser Momente passen nicht in die ökonomische Logik. Oder umgekehrt: Die wenigsten von uns fühlen sich wirklich lebendig, wenn wir als Teil der Maschine unsere Arbeit für einen Arbeitgeber verrichten, es gehört zum Leben dazu aber nur wenige würden dazu neigen, zu sagen: „So fühlt es sich an, lebendig zu sein.“ Beim Reisen, Feiern und sonstigen wertlosen (= wertbefreiten) Tätigkeiten bietet sich dieser Ausdruck schon viel eher an.
Manchmal brauchen wir vielleicht eine Erinnerung daran, dass Geldsorgen und Geldwert nicht das einzige sind. Eine Aufforderung sich ein bisschen aus der Zeit heraus zu nehmen, und die Ernte des Daseins zu feiern. Dass wir uns daran erinnern, dass wir nicht nur Mittel zum Zweck von Staat und Wirtschaft sind, sondern dass wir selbst ein Recht haben, uns am Dasein zu erfreuen. Vielleicht können wir einander dabei unterstützen.
Fazit?
Das scheint mir eine atheistische und bejahende Perspektive auf das Heilige zu sein. Und gleichzeitig eine gutes Argument, sich auch atheistische religiös zu orientieren. Muss es unbedingt der Begriff “heilig” sein, oder gibt es andere, die besser geeignet sind? Ist eine Trennung zwischen “heilig und profan” sinnvoll, oder sollte man auch lernen, selbst im Alltag durch Achtsamkeit und Dankbarkeit für das ganz Besondere offen zu bleiben?
Sollte es Dinge geben, die für Atheisten heilig im Sinne von Unantastbar sind? Oder sollte “heilig” ein vorübergehender Status sein, der sich ständig im Diskurs gegen die Kritik behaupten muss?
Was ist Ihnen heilig?
Wovon im Leben sollte es mehr geben?
Wann fühlen Sie sich besonders lebendig?