Der heutige 1. Mai, der “Tag der Arbeit”, ist der traditionelle Feiertag der Arbeiterbewegung. Passend zu diesem Tag möchte ich ein wenig den Einfluss dieser Bewegung auf die europäische Geschichte und Kultur beleuchten. Zwei historische Kampflieder, die der Arbeiterbewegung zumindest im weiteren Sinne zuzuschreiben sind, sollen hier als Beispiele für positive wie negative Aspekte dienen.
Die Arbeiterbewegung als aufklärerisch-emanzipatorische Kraft
Die Arbeiterbewegung ist in ihren Ursprüngen getragen von Idealen der Aufklärung, der Emanzipation und des Fortschritts. Diese Werte kommen in kaum einem Arbeiterlied besser zum Ausdruck als in der “Arbeiter-Marseillaise”. Dieses Lied wurde 1846 von Jakob Audorf für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) geschrieben, im speziellen für die Totenfeier seines Gründers Ferdinand Lasalle. Es wird, wie der Name schon sagt, zur Melodie der “Marseillaise”, der französischen Nationalhymne, gesungen. Der vollständige Liedtext ist hier zu finden: http://www.volksliederarchiv.de/wohlan-wer-recht-und-wahrheit-achtet-arbeiter-marseillaise/. Das folgende Video gibt eine historische Walzenaufnahme dieses Lieds wieder:
Mir persönlich hat vor allem die folgende Stelle in den Bann gezogen:
Der Feind, den wir am tiefsten hassen
der uns umlagert schwarz und dicht
das ist der Unverstand der Massen
den nur des Geistes Schwert durchbricht
Es mag pathetisch klingen, aber mir ist bisher noch kein Werk untergekommen, in dem die Werte der Aufklärung mit solcher Brillanz und Schönheit in lyrischer Form dargeboten werden. Diese Passage hat wohl auch heute mehr denn je ihre Gültigkeit.
Neben dem Gedenken an den verstorbenen Arbeiterführer Lasalle kommt im Text der Arbeiter-Marseillaise eine geradezu euphorische Zuversicht, eine durch und durch optimistische Stimmung für eine strahlende Zukunft zum Ausdruck.
Das freie Wahlrecht ist das Zeichen
in dem wir siegen, nun wohlan!
Nicht predigen wir Haß den Reichen
nur gleiches Recht für jedermann…
Von uns wird einst die Nachwelt zeugen
schon blickt auf uns die Gegenwart
Frisch auf, beginnen wir den Reigen
ist auch der Boden rauh und hart…
Wenn ich mir diesen alten Liedtext ansehe, frage ich mich ein wenig, was nur aus dieser Zuversicht der damaligen Zeit geworden ist.
Propaganda und Dogmatismus des Realsozialismus
Wir sollten nicht auf die dunklen Kapitel der Geschichte vergessen, die uns der real existierende Sozialismus im 20. Jahrhundert beschert hat. Auch hierfür möchte ich ein Lied nennen, das dafür Pate steht: Das “Lied der Partei”. Dieses Lied wurde 1949 vom Deutschböhmen und überzeugten Kommunisten Louis Fürnberg verfasst. In der Entstehungsgeschichte dieses Lieder spiegeln sich bereits die Spannungen mit den stalinistischen Autoritäten wieder, denen Fürnberg gegen Ende seines Lebens ausgesetzt war. Seine Witwe Lotte Fürnberg berichtet:
“Fürnberg wurde 1949 nicht zum Parteitag der KPC eingeladen, zum ersten Mal. Das hat ihn furchtbar gekränkt, und in einem Gedicht schrieb er seine Enttäuschung nieder.” Dann aber habe “er sich selbst wieder zur Ordnung gerufen” und das Lied folgen lassen von der Partei, die immer Recht hat. “Er schrieb es, um die Kränkung vor sich selbst zu rechtfertigen.” Wir sprechen über die zerstörerische Selbstverleugnung, die diesem Vorgang innewohnt. Wenn man das Gedicht nur genau anschaue, sagt Lotte Fürnberg, lese man daraus nicht nur demonstrativen Parteigehorsam im damaligen Denunziationsklima. Es sei auch verzweifelter Trotz dabei gewesen. Später habe er ihr gesagt: “Dieses Lied wird mir noch einmal sehr schaden.”
Trotz alledem fand das “Lied der Partei” in der DDR als Lobeshymne auf die “Sozialistische Einheitspartei Deutschlands” Verbreitung. Auf Youtube ist dieses Lied mehrfach zu finden:
Ich würde sagen, dass dieses Lied eine Bestätigung des Poe’schen Gesetzes ist. Dieses scherzhafte Gesetz besagt, dass eine Parodie auf Extremismus kaum noch von ernst gemeinten extremistischen Ansichten zu unterscheiden ist. In diesem Fall muss man leider sagen, dass dieses Lied keine Satire ist, dass der Inhalt dieses Liedes einst tatsächlich ernst genommen wurde.
Schon die erste Strophe schreibt der Partei eine gottgleiche Stellung zu:
Sie hat uns alles gegeben,
Sonne und Wind, und sie geizte nie.
Wo sie war, war das Leben,
was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen.
Fror auch die Welt, uns war warm.
Uns schützt die Mutter der Massen,
uns trägt ihr mächtiger Arm.
Mit dem berühmt-berüchtigten Satz im Refrain
Die Partei, die Partei, die hat immer recht
wird der Partei laut Joachim Kahl ein Absolutheitsanspruch zugesprochen, der schon die Unfehlbarkeit des Papstes übersteigt:
Die marxistisch-leninistische Partei erhebt einen Absolutheitsanspruch, der Theorie und Praxis, Erkenntnis und Moral umschließt. Dieser Anspruch übersteigt den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes beträchtlich. Der Papst beansprucht seit 1870 ja nicht, immer und in allem unfehlbar zu sein, sondern nur in bestimmten herausgehoben Fällen: wenn er – unter göttlichem Beistand und durch Eingebung des heiligen Geistes – kirchenamtlich, „ex cathedra“, als Nachfolger auf dem Stuhl des Petrus, ein Dogma verkündet. Wer dagegen immer recht zu haben beansprucht, ist päpstlicher als der Papst: rechthaberisch und besserwisserisch vom Ansatz her, nicht als gelegentliche Selbstüberschätzung, die überall vorkommen kann. Hier vermisst sich eine ganze Organisation, die von der Geschichte erwählte Künderin, Verwalterin und Schiedsrichterin des Wahren, Guten und Rechten zu sein.
Quelle: http://www.kahl-marburg.privat.t-online.de/kahl_marx1.pdf
Fazit
Wie so oft im Leben lohnt sich auch bei der Geschichte der Arbeiterbewegung ein differenzierte Sichtweise. Beide Lieder, die ich an dieser Stelle präsentiert habe, repräsentieren Aspekte der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, die nicht zu verleugnen sind. Mein Appell: Betrachten wir das “Lied der Partei” als mahnendes Beispiel und besinnen wir uns auf die in der “Arbeiter-Marseillaise” besungenen Ideale. Ich wünsche einen schönen 1. Mai!
Bildquellen:
- Ferdinand Lassalle: Wikimedia Commons, gemeinfrei
- Louis Fürnberg: Deutsches Bundesarchiv, Bild 183-S81891, CC-BY-SA 3.0