“Ich weiß, dass ich nicht weiß.”
Aber bleiben wir zunächst bei Einfacherem: wenn jemand behauptet, er wisse, dass Österreich am 15. Mai 2001 8,032.557 Einwohner gehabt hat. Hat er selber nachgezählt? Und wenn ja: wie könnte er sicher sein, dass er niemanden übersehen hat, sich nicht verhaspelt hat beim Zählen? Wir können kaum etwas mit Sicherheit wissen. Vielleicht kann jeder im strengen Sinn nur dessen gewiss sein, dass es ihn selber gibt. Dagegen müssen wir aber alle viel glauben.
Bei der Einwohnerzahl beispielsweise müssen wir dem Zählverfahren vertrauen, den Experten, die daran beteiligt waren, den erhebenden Beamten, zuletzt auch den Angaben, die die Einwohner selbst gemacht haben. Und vielem anderen. Aber es gibt viel tiefer an die Existenz rührende Gegebenheiten und Vorgänge – solche, denen wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Oder sind Sie etwa nicht auf den Glauben angewiesen, dass Ihnen die Luft, die Sie gerade atmen, gut tut? Was wissen Sie denn über Ihre Atemluft, und was sie gerade in Ihnen an Lang- oder Kurzzeitschäden auslöst?
Ich möchte Sie nicht verunsichern. Man fängt ja schon als Baby an mit genau dieser Luft, mit der Milch, mit der mütterlichen Fürsorge – und wir alle sind bisher gut damit zurechtgekommen. Um die Entwicklungschancen eines Babys, dem das sogenannte Grundvertrauen abhanden kommt, steht es erwiesenermaßen schlecht. Und höchstwahrscheinlich wurzelt das Grund- oder Urvertrauen schon in der Entwicklung vor der Geburt. Man könnte endlos aufzählen, was und woran wir – also jeder von uns – tagtäglich glauben und worauf wir vertrauen. Es gibt so vieles, worauf wir uns verlassen, ohne uns hinterher “verlassen” vorzufinden.
Und das alles glauben wir einfach so?
Der Bäcker will uns auch nächste Woche noch Brot verkaufen – er wird wenig Interesse haben, uns zu betrügen oder schlampig zu sein. Und dann gibt es ja noch das Marktamt. Um die Brücken im Straßennetz kümmern sich eigene Behörden, und wenn ihr Zustand verdächtig erscheint, werden die Brücken genau untersucht, saniert oder gesperrt. Und diese Behörden wurden aus gutem Grund in die Welt gerufen.
Natürlich kann trotzdem gelegentlich ein Bauwerk unvermutet einstürzen. Denn solche Kontrollen fußen ihrerseits wieder auf vielen Glaubensakten: dass die Messgeräte (noch immer) richtig anzeigen, dass die unzugänglichen Teile in einem Zustand sind, wie es den Theorien entspricht, dass die Prüfer weder besoffen noch korrupt sind ….
Aber auch all das unterliegt seinerseits wieder Kontrollen. Bei einem morschen Steg in entlegener Gegend sind wir selber sehr wachsam und vorsichtig. Manch einer rüttelt kritisch an ihm, ehe er an seine Tragfähigkeit glaubt und den Fuß drauf setzt.
Auch Philosophen haben sich mit der banalen Frage nach dem Glauben schon befasst und das alles gedanklich auf “festere Füße” gestellt. Es war vor allem der wissenschaftliche Fortschritt, insbesondere jener der Naturwissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, der die Frage aufwarf, was man als Wissen und was man als Glaube oder als unbesehene Vormeinung werten könne.
Auch hier genügen uns bekannte Beispiele für einen prinzipiellen Einblick: die Entdeckung der (klarerweise den Jupiter umkreisenden) Jupitermonde beispielsweise entlarvte es als Schimäre, dass sich “alles um die Erde dreht” – wie es bis dahin als sicher galt. Aber nach Galileis Entdeckung dauerte es noch Jahrhunderte, bis die neue Lehre auch vom Großteil der Konservativen akzeptiert wurde. Das Experiment von Michelson und Morley bewies die (nach den klassischen – d.h. von Galilei formulierten – Theorien überraschende) Tatsache, dass Licht sich unabhängig von der Bewegungsgeschwindigkeit und -richtung der Erde ausbreitet. Es zwang die Denker dazu, ein neues Gedankenmodell dafür zu suchen. Die Lösung war Einsteins Relativitätstheorie.
Karl Popper beschäftigte sich mit alldem aus philosophischer Perspektive. Und er kleidete die Vorgänge, die die Naturwissenschafter schon lange intuitiv vollzogen hatten, in ein formales Schema. Hypothese – Experiment – Falsifikationsversuch hieß sein Dreischritt zum Erfolg. Was so wissenschaftlich klingt, hat auch im Alltag ganz grundlegende Bedeutung. Poppers Wissenschaftstheorie [2] folgt ganz alltäglichen Vorgängen und Verhaltensweisen. “Trial and error” ist ein weithin praktiziertes Prinzip, vor allem in Situationen, in denen keine verlässliche Theorie zur Verfügung steht. Oft geschieht es aus blanker Unerfahrenheit, dass dieses Prinzip angewendet wird – oder besser: angewendet werden muss. Und oft genug wird es seine Opfer gefordert haben.
Wie auch immer: Mit zunehmender Erfahrung, mit zunehmendem Gefühl für die Sache entstehen aus den praktischen, oft schmerzlichen Beobachtungen neue Deutungen, Theorien und Hypothesen. Die Naturwissenschaft strebt oft danach, die Experimente gezielt zu veranstalten – im Lebensalltag ergeben die sich meist von selbst, und häufig genug schlittert man in ein Wagnis, dessen man sich erst bewusst wird, wenn man drin steckt. [3]
Aber um die Theorie, die Hypothese, das Gedankenmodell kommt man dann erst recht nicht herum, sofern man wieder “festen Boden unter die Füße” bekommen will. Das Gehirn beginnt da günstigerweise oft “wie von selbst” zu denken. Denn dazu haben wir es: Probleme geben ihm zu denken.
Mit der Hypothese haben wir einen anderen Zugang zum Glauben gefunden: Wenn wir einer Hypothese bewusst folgen, ist unser Glaube an ihre Richtigkeit (besser: ihre Brauchbarkeit) aus einer Entscheidung entstanden. Kritisches Nachdenken über die uns einsehbaren Zusammenhänge, die bei der Sache eine Rolle spielen, war es, das uns zur Hypothese geführt hat. Sie ist die beste Theorie, die wir in dieser Situation aufbieten konnten. Dann kommt sie “auf den Prüfstand” – voraussichtlich mit einem Misserfolg, nämlich mit Abweichungen zwischen dem, was laut Hypothese entstehen sollte und dem, was sich tatsächlich einstellt. So lernen wir dazu.
Glaube an die Hypothese ist wichtiger Bestandteil des Ganzen. Eine Hypothese, der wir nicht irgendwie zutrauen, dass sie uns weiterhelfen kann, wenn wir sie anwenden, ist keine. Und daneben ist noch “jede Menge Glauben” notwendig für das Drumherum, das wir in unserem Denken nicht berücksichtigen konnten. Der Glaube beispielsweise, dass nicht etwas völlig Unerwartetes, Störendes eintritt, das uns alles so durcheinander bringt, dass wir überhaupt keinen Zusammenhang mehr sehen, keinen klaren Gedanken mehr fassen können.
Wo das Denken an Grenzen stößt, bleibt nur das Glauben, um ein “Bild der Welt” zu haben. Und um ein solches “Bild” geht es ja vordringlich. “Wer nichts weiß, muss alles glauben” hat Marie von Ebner-Eschenbach festgehalten [4]. Glaube ist also sehr wichtig im Erkenntnisprozess, aber er spielt keine entscheidende Rolle.
Entscheidungen
Die Entscheidungen fallen durch die Vernunft in uns, im kritischen Denken oder intuitiv. Je mehr bei dieser Entscheidung “kritisch gedacht” wurde, desto “rationaler” kann man sie nennen. Auch wenn wir uns zu keiner Entscheidung durchringen, ist eine da: die, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Dann liefern wir uns mehr oder weniger bewusst dem Zufall aus.
Wenn wir unsere Entscheidung ein “Urteil” nennen, wird es besonders deutlich: zu urteilen ist ein aktiver Vorgang. Für zufällig zustande gekommene Entscheidungen passt die Bezeichnung Urteil meist nicht.
Glaube im Erkenntnisprozess ist beharrend. Wir lassen die alte Theorie, oder wir übernehmen eine Theorie von woanders – beide Male ohne zu hinterfragen. Sobald wir überlegen, ob wir eine angebotene Theorie übernehmen könnten, sind wir schon kritisch und nicht mehr gläubig. Im Glauben selbst entscheidet sich nichts und wird nichts entschieden. Glaube ist unkritisch.
Die Phasen des Glaubens erstrecken sich über längere Zeiträume. Entscheidungen dagegen sind punktuell. Sie können zwar über längere Zeiträume vorbereitet werden, in denen um sie gerungen wird. Wir können uns Entscheidungen als die Grenzen zwischen den verschiedenen Glaubensphasen vorstellen. Je mehr eine Entscheidung zu einer Glaubensansicht auf rationaler Überlegung gründet, desto mehr kann man diesem Glauben auch Rationalität zuschreiben.
Alltäglicher versus religiöser Glaube
Einen wichtigen Unterschied sehe ich zwischen “religiös” glauben und “alltäglich” glauben. Sehr oft, wenn “vom Glauben” die Rede ist, ist religiöser Glaube, religiöse Gläubigkeit gemeint. Und sehr dezidiert hat die kirchliche Theologie der letzten Jahrzehnte hervorgestrichen, dass es dabei vor allem um ein Vertrauen in etwas Religiöses, letztlich (an) Gott, geht. Sprachlich wird das häufig als “glauben an …” verdeutlicht – im Gegensatz zu “glauben, dass …” Das ist nicht falsch, aber auch die banalen Beispiele, die ich schon genannt habe, zeigen: letztlich geht es auch da, wo wir “alltäglich glauben”, ums Vertrauen – sofern es tatsächlich “um etwas geht”. Ein Vertrauen nämlich, das Gedeih oder Verderb bringen kann, wenn wir nur wieder an die Atemluft, das Brot oder eine Brücke denken.
Je intimere Bereiche betroffen sind desto mehr tritt das Vertrauen ins Bewusstsein. Die Liebesbeziehung zu einem anderen Menschen beispielsweise wird gemeinhin nur selten als “Glaube” benannt, beinhaltet aber eine Menge Glaubensaspekte. Die fangen natürlich wieder bei jedem selbst an: die eigene Fähigkeit der Wahrnehmung und Einschätzung der ausgetauschten Zuwendungen etwa; aber sie beziehen sich auch auf den Anderen: seine Ehrlichkeit, seine Fähigkeit zu einem fairen Umgang, zu einer adäquaten Antwort auf meine Zuwendungen etc. Von Versprechungen allein wird es keine Liebe. Wenn die faktischen Zuwendungen über Gebühr ausbleiben, verschwindet sie.
Beim Kleinkind ist das besonders deutlich: sein Urvertrauen kann nur entstehen, wenn es die Zuwendung auch tatsächlich erlebt. Mutter oder Vater mögen da geduldiger sein, aber auch sie erfasst eine sich steigernde Unruhe, wenn in den Reaktionen des Kindes die Zeichen für eine “normale” Entwicklung ausbleiben.
Wo es um nicht so viel geht, nennen wir es recht gern “glauben”: wir glauben etwa, dass es morgen regnen wird – vielleicht auf Grund eines Blicks zum Himmel, oder einfach aus einer pessimistischen Einstellung heraus, oder wegen der Wetterprognose. Wenn es dabei um nicht viel geht (also nicht z.B. um Gedeih bzw. Verderb der Ernte) oder wenn wir zu der Auffassung, dass es morgen regnen wird, ohne viel Aufhebens gekommen sind, ist eher die Bezeichnung “Meinung” (statt “Glaube”) dafür angebracht. Wenn wir dagegen an unseren “Glauben” sozusagen unser Seelenheil knüpfen (das muss gar nicht religiös gemeint sein, auch ein wegen unpassenden Wetters verpatzter Ausflug kann mitunter psychische Krisen auslösen), wird der Glaube mehr und mehr zu einer Sache innerer Überzeugung und persönlicher Identifizierung. Und je mehr das der Fall ist, desto eher halte ich “Gläubigkeit” bzw. “gläubige Haltung” für eine zutreffende Bezeichnung.
Zu glauben ist nachgiebig
Die Grenzen zwischen “Glaube” und “Meinung” sind fließend und beide Begriffe umzäunen miteinander einen riesigen Bereich. Das Universalwort “glauben” wird verwendet für Belangloses wie für Brisantes, und es ist schwer zu zählen, wie oft wir es Tag für Tag verwenden, und wo die Schwerpunkte seiner Verwendung liegen.
Religiöser Glaube ist sehr oft – vor allem wie er bei uns etabliert ist – ein Glaube an Autorität. Ohne kirchliche Theologen wüssten die meisten nicht, wie sie das, woran und was sie glauben, sagen könnten. Einmal mehr zeigt sich die Mehrdeutigkeit des Begriffs: Wir nennen es “glauben” in sehr verschiedenem Bezug: als grenzenloses Vertrauen in Gott, als “für Wahr halten” verkündeter Botschaften und Theorien, als Festklammern am eigenen Vorurteil, bis hin zur belanglosen Meinung in irgendeiner Nebensächlichkeit.
Ob nun aber Gläubigkeit sich einer Autorität unterordnet oder nur dem eigenen Vorurteil – stets kann ihr Nachgiebigkeit zugeschrieben werden. Nachgiebig gegen einen Autoritätsanspruch, nachgiebig gegen die eigene Denkfaulheit.
Das Merkmal “nachgiebig” erscheint markanter als das schon erwähnte der Beharrlichkeit. Denn wenn die Autorität einen geänderten Glaubensinhalt definiert, wird er von den Autoritätsgläubigen willfährig übernommen. Beharrlich sind sie dabei nur darin, der gleichen Autorität ihren Glauben zu schenken. Poppers Dreischritt ist dabei unterbrochen. Man beharrt im Stadium der Hypothese und blockt alle Tendenzen zur Überprüfung und möglichen Falsifizierung ab. Soll solche Beharrlichkeit abgewertet werden, wird sie gern als “stur” bezeichnet.
Durch manche (vor allem mächtige) Religionen und Ideologien wird eine – meist autoritär verkündete – sogenannte Glaubensüberzeugung ins Zentrum des Lebens gerückt und soll als zentrale Basis-, Orientierungs- und Leitfunktion gelten. Sehr oft ist ein solcher Glaube dann von überragender Gewissheit für den, der ihm anhängt. Das wird besonders deutlich, wenn er dazu führt, dass jemand seinetwegen das eigene Leben “wegwirft”. Ob Selbstmordattentäter heute, Kamikaze oder religiöse Märtyrer früher – alle sind sie getragen von einer Glaubensgewissheit. Das “höhere Ziel” – sei es eine spektakuläre Demonstration oder der kämpferische Einsatz für eine für gut gehaltene Sache im “Diesseits”, seien es zu erwartende “jenseitige” Freuden – lässt ihnen ihr Leben vergleichsweise geringwertig erscheinen.
Wieder ermöglicht Galilei uns einen schönen Vergleich: Er war von seiner wissenschaftlichen Lehre überzeugt – “und sie dreht sich doch” -, ließ sich aber ihretwegen auf den Scheiterhaufen nicht ein, sondern schwor ab, und lebte und studierte weiter. Ist seine Überzeugung für uns deshalb weniger glaubwürdig als etwa die des heiligen Stephanus oder Sebastian?
Anmerkungen, Verweise:
Die Überlegungen im Beitrag folgen weitgehend meiner 2002 entstandenen, 2011 unter http://www.atheisten-info.at/downloads/geyer.pdf veröffentlichten Arbeit. Dort folgt auf diese grundlegende Begriffserörterung eine ausführliche Auseinandersetzung mit Argumentationslinien der christlichen Theologie.
Hier sollte vor allem das (deutschsprachige) Begriffsverständnis für “Glaube” bzw. “glauben” dargelegt werden, um auf dieser Basis später in anderen Beiträgen das spezielle Begriffsverständnis des “religiösen Glaubens der Atheistischen Religionsgesellschaft” zielführend zu erläutern.
[1] C. M. Martini, U. Eco; Woran glaubt, wer nicht glaubt? dtv 36160
[2] Popper selbst nannte es seine Ansicht über den tatsächlichen Prozess der Erfahrungsbildung und das tatsächliche Verfahren der Forschung (K.R. Popper, Kritik der Erkenntnis, aus Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 369f)
Meine Rezension zum o.a. Buch von Martini/Eco:
http://www.amazon.de/gp/customer-reviews/RNI8D5AWI8P3W/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=3552049029
Danke! Sehr lesenswert, was Sie zu Martini und Eco kommentiert haben.
Wir überlegen, wie wir für die ARG-Homepage weitere Autoren gewinnen können.
Könnten Sie sich vorstellen, Ihre Rezension (bzw. überhaupt Ihre Sicht der Dinge) ausführlicher für einen Beitrag hier zu formulieren?