Viele Leute haben eine sehr bestimmte Vorstellung davon, was unter Religion zu verstehen ist. In vielen Fällen stellt sich dann bei näherem Hinsehen heraus, dass Religion in Wirklichkeit mehr und mitunter auch deutlich anders sein kann als im ersten Augenblick gedacht.
Von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet kann Religion mitunter sehr, sehr unterschiedlich, mit sehr verschiedenen Facetten, erscheinen. Tatsächlich zeigt sich immer wieder: Religion kann mehr sein …
In einer Kolumne der “Neuen Zürcher Zeitung” vom 14. Jänner 2020 hat der Philosoph Konrad Paul Liessmann einen religionsrechtlichen Antrag der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) vom 30. Dezember 2019 kommentiert, mit dem die ARG beim Kultusamt im Bundeskanzleramt den rechtlichen Status einer staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft erreichen will (derzeit läuft das Eintragungsverfahren). Der Kolumnentext vermittelt den Eindruck, dass Religion den Glauben an einen Gott voraussetze, und spitzt das so zu: “Nicht an einen Gott zu glauben, will also das Gleiche sein, wie an einen Gott zu glauben?” Das ist eine nicht nur rhetorische, sondern meines Erachtens auch inhaltlich bemerkenswert interessante Frage. Ja, es geht der Atheistischen Religionsgesellschaft tatsächlich um eine volle Gleichberechtigung und Gleichbehandlung, und zwar – ja! – auch in religionsrechtlicher Hinsicht. Die EU-Richtlinie 2011/95/EU (die sogenannte “Statusrichtlinie”) sagt klipp und klar: “der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen […]”. In dieser Hinsicht ist für das österreichische Religionsrecht allerdings schon seit mehreren Jahrzehnten geklärt: Religion setzt keinen Glauben an Gott voraus. Die Tatsache, dass die Österreichische Buddhistische Religionsgesellschaft, die sich selbst als nichttheistisch versteht, in Österreich seit 1983 als Religionsgesellschaft gesetzlich anerkannt ist, zeigt das mit aller Deutlichkeit. Religion kann mehr sein …
Existenzielle Fragen und Religionskritik
Im Kolumnentext ist auch die Rede von “der religionskritischen Tradition der Aufklärung”, der sich die Atheistische Religionsgesellschaft “irrtümlich”, wie im Kolumnentext betont wird, “verpflichtet” glaube. Ganz konkret ist im Kolumnentext zu lesen: “Alles wird zu einem religiösen Gefühl erklärt und damit dem Diskurs entzogen. Die Rationalität dankt ab.” Das wäre ein schwerwiegender Kritikpunkt an der Atheistischen Religionsgesellschaft und ganz grundsätzlich an Religion als Religion, wenn es denn auch wirklich zuträfe. Es trifft allerdings gar nicht zu. Religion kann (deutlich) mehr sein als ein religiöses Gefühl, wobei im Kolumnentext noch irgendwie unklar und damit offen bleibt, was genau mit einem religiösen Gefühl gemeint ist. Aber was auch immer damit im Kolumnentext gemeint sein mag: Die Reduktion auf ein Gefühl lässt – leider Gottes – sehr deutlich außer Acht, dass Religion auch ein kultureller Raum ist, in dem existenzielle Fragen gestellt werden können. Existenzielle Fragen? Ja, existenzielle Fragen! Also Fragen, mit denen sich ernsthaft zu beschäftigen auch aus einer atheistischen Perspektive heraus sehr sinnvoll sein kann und jedenfalls möglich ist. “Die Rationalität” ist hier vielleicht ganz besonders eingeladen und herausgefordert. Eine wirklich kritische Religionskritik sollte in der Lage sein, auch diese positive Seite von Religion sehr genau wahrzunehmen (vgl. altgriechisch “krinein” für “trennen, (unter-) scheiden” – das Wort “Kritik” hat also von der Wortbildung her ganz zentral etwas mit einem Unterscheiden-können, das ein ausreichend genaues Wahrnehmen-können voraussetzt, zu tun). Im Falle einer Reduktion von Religion auf ein religiöses Gefühl wird hingegen genau das – sagen wir‘s einmal sehr zurückhaltend: wohl eher nicht gelingen (können). Das ist nicht besonders überraschend und gleichzeitig, finde ich, im Ergebnis ziemlich schade. Es entsteht dadurch nämlich ein unvollständiges und teilweise unrealistisches, verzerrtes Bild von Religion. Religion kann mehr sein …
Religion ist so gesehen irgendwie immer auch das, was mit ihrer Verwirklichung jeweils ganz konkret aus ihr gemacht wird. In jedem Fall ist sie ein mit (sehr) hoher Verantwortung verknüpfter Bereich menschlicher Kultur. Wir sollten uns deshalb die Freiheit nehmen, immer wieder (selbst-) kritisch hinzuschauen.
Wilfried Apfalter ist Präsidiumsmitglied der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG, atheistisch.at) und Mitglied im interreligiösen Dialogforum Ethik der Initiative Weltethos Österreich (IWEO). Aktuelle Buchveröffentlichung: Griechische Terminologie. Einführung und Grundwissen für das Philosophiestudium. Freiburg im Breisgau: Alber, 2019.