Seelsorge ist immer auch eine gegenseitige Begleitung auf einem Weg.
Am 30. Dezember 2019 hat die Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) den Status einer staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft beantragt. In der Neuen Zürcher Zeitung vom 14. Jänner 2020 hat Konrad Paul Liessmann diesen Antrag kommentiert: „Alles wird zu einem religiösen Gefühl erklärt und damit dem Diskurs entzogen. Die Rationalität dankt ab.“ Das wäre ein schwerwiegender Kritikpunkt, wenn es zuträfe. Tut es aber nicht. Die Reduktion auf ein Gefühl lässt außer Acht, dass Religion auch ein kultureller Raum ist, in dem existenzielle Fragen gestellt werden können. „Die Rationalität“ ist bei existenziellen Fragen nicht zum Abdanken gezwungen, sondern eher besonders herausgefordert.
Er fragt: “Nicht an einen Gott zu glauben, will also das Gleiche sein, wie an einen Gott zu glauben?” Ja, es geht der ARG tatsächlich um Gleichberechtigung und darum, Räume kultureller Partizipation für Atheist(inn)en zu eröffnen. Dazu zählt auch der Bereich der Seelsorge.
Entwicklung einer Alternative
Die ARG verfolgt damit ein im Grunde genommen wirklich großes Projekt der Entwicklung einer Alternative zu traditionellen Religionen. Mit welchen kulturellen Narrativen, Praktiken, Ritualen, Orten etc. könnten Atheist(inn)en zu einem guten Leben beitragen? Was sind die derzeit besten Herangehensweisen und Erklärungen, die einen realistischen Blick auf die Welt ermöglichen und gleichzeitig ein gutes Leben fördern?
Die ARG wird dabei voraussichtlich einiges bereits Existierendes finden und auch einiges Neues erfinden, entwickeln und ausprobieren. Ihre Seelsorge wird wohl optimalerweise individuelle und kulturelle Seelsorge verwirklichen. Also Begleitung auf einem Wegstück, um konkrete Wegstationen herum, aber auch ausdauernde Begleitung auf dem Weg durchs Leben und mit Blick über das eigene Leben hinaus. Ein umfassendes und hochwertiges Seelsorgeangebot wird in beide Richtungen wirken. Es wird persönliche Gespräche, Rituale etc. und kulturelle Texte etc. zur Verfügung stellen. Also etwa Texte, die erklären, motivieren, ermutigen, trösten, Orientierung bieten, Perspektiven entwickeln und darlegen, zum Weiterdenken anregen. Das kann von Kurzgedichten bis hin zu deutlich längeren anderen „kulturellen Texten“ (etwa Bildern/Fotos und Filmen) reichen. Und zwar solchen, die über wissenschaftlich fundierte Natur- und Kulturdokus hinausgehen (wobei etwa „Cosmos: A Personal Voyage“ von Carl Sagan und anderen dem, was ich mir da vorstellen würde, schon sehr nahe kommt).
Das alles auch mit Bezugnahme auf „theologische“ Fragen etwa nach Gott bzw. Göttern und vielem, was damit zusammenhängt. Theologien sind zwar klassischerweise im Bereich theistischer Religionen zu finden, aber es ist natürlich auch aus einer atheistischen Perspektive heraus möglich, etwas relevantes Neues zu ihren Diskursen beizutragen (vgl. etwa „Science, Law and Transubstantiation“, Theology and Science, im Druck). Ich finde es daher charmant, dass mich Hilarion Petzold, ein zentraler Mitbegründer des Psychotherapieverfahrens „Integrative Therapie“ (IT), zu den „Theologen“ zählt (Psychologische Medizin 29/1, 2018, 38).
Gute Seelsorge erinnert uns speziell auch daran, wie wir anspruchsvollerweise sein könnten. Die große Sehnsucht nach einer besseren Welt ist wohl nicht die übelste Sehnsucht, sofern sie auch mit Verantwortungsbewusstsein, Toleranz und Empathie etc. verbunden ist. Und natürlich ist da immer auch die große Herausforderung eines möglichst guten Umgangs mit unserer Sterblichkeit, mit dem Tod und mit allem, was damit zusammenhängt. Einschließlich des Anbietens von Unterstützung beim Gestalten eines Begräbnisses bzw. einer Verabschiedungs- oder Trauerfeier. Eine gute atheistische Seelsorge muss uns allen konstruktive, gute Impulse geben können. Sie ist damit ein Beitrag zum Gemeinwohl und ein wertvoller Dienst an der Gesellschaft.
Ohne Glauben an eine unsterbliche Seele
Auch wer nicht an eine unsterbliche Seele glaubt, kann von Seelsorge profitieren. Seelsorge setzt wie Psychotherapie keine unsterbliche Seele voraus, auch wenn Platon, der eine entsprechende Unsterblichkeit vertritt, Sokrates sinngemäß von einer (altgriech.) „epiméleia tes psychés“ („Sorge um/für die Seele“, vgl. altgriech. „psyché“ für „Seele“) sprechen lässt (vgl. Griechische Terminologie. Einführung und Grundwissen für das Philosophiestudium. Freiburg im Breisgau: Alber, 2019). Gute Seelsorge ist eine Art von verantwortungsbewusst praktizierter, wirksam unterstützender Wegbegleitung – warum nicht auch von und durch und für Atheist(inn)en?
Es gibt in Krankenhäusern bereits eine Vielfalt an Seelsorgen. Vielleicht eines Tages auch eine atheistische? Ebenso gibt es bereits sechs Militärseelsorgen in Österreich (katholisch, evangelisch, orthodox, islamisch, alevitisch, jüdisch). Vielleicht kann eines Tages auch die grundsätzliche rechtliche Möglichkeit einer atheistischen durch die ARG dazukommen? Diese wäre sicherlich in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung, nicht zuletzt auch angesichts der in der Religionslehre der ARG als Option deutlich verankerten Möglichkeit einer pazifistischen Lebensweise.
Die ARG unterstützt schon seit einiger Zeit ihre Mitglieder dabei, dass ihre atheistischen Überzeugungen auch von Behörden bzw. Gerichten wahr- und ernstgenommen werden. Mehrere Mitglieder haben bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl oder von einem Gericht rechtskräftig Asyl erhalten. Auch diese Begleitung ist eine Form von Seelsorge – eine, die sich mit oft besonders existenziellen Fragen beschäftigt.
Der Genetiker John Haldane hat einmal vier Phasen des Akzeptierens beschrieben (Journal of Genetics 58, 1963, 464): „1. This is worthless nonsense, 2. This is an interesting, but perverse, point of view, 3. This is true, but quite unimportant, 4. I always said so.”
Wilfried Apfalter ist Präsidiumsmitglied der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG)