Ein anregender Gedankenspender – Zum 10. Todestag von Terry Pratchett


Ich sitze vor meinem Computer. Im Bildschirm spiegelt sich mein Gesicht, mitsamt Brille und Hut. Ich habe in den letzten Tagen viel an Terry Pratchett gedacht, denn sein Todestag jährt sich heute zum zehnten Mal. In seinen Buch-Klappentexten hat er über sich selbst gern gewitzelt, dass er sein Leben an der Tastatur verbringt. Durch seine Tastatur ist es ihm gelungen, die Welt durch seine schwarze Mühle zu mahlen, und sie durch die Magie der von ihm erschaffenen Scheibenwelt in meinen Kopf zu zaubern. Wenn ich an ihn denke, erscheint mir sein Gesicht in einem oktarinfarbenen Licht, oder so ähnlich.

Was macht Terry Pratchett so besonders?

Portrait von Terry Pratchett, aufgenommen 2012
Terry Pratchett (2012)
(Luigi Novi, CC BY 3.0, Wikimedia Commons)

Ich habe mit Leuten darüber gesprochen. Mit Martin, der festgestellt hat, dass unser nächstes Treffen der ARG Steiermark voraussichtlich an seinem Geburtstag statt finden wird, an seinem 77. Geburtstag. Das hat uns auch zu der Frage geführt, warum man bei berühmten Leuten eigentlich oft den Todestag begeht, und nicht den Geburtstag. Wir sind zu einer Vermutung gelangt, nämlich dass auch berühmte Leute an ihrem Geburtstag meist noch recht unbekannt und wenig hervorgetan sind. Ihre Bekanntschaft erwerben sie sich im Verlauf ihres Lebens, deswegen sind sie am Todestag viel bekannter. Außerdem war der Geburtstag von Terry kein Ereignis in meinem Leben, ich war noch nicht auf der Welt. Aber die Information über seinen Tod hat mich mitten in meinem Leben erreicht und berührt. Sie hat die Woche, als er gestorben ist zu der Woche gemacht, in der Terry Pratchett gestorben ist. Und so sind vermutlich die meisten, die sich an ihn erinnern können eher jünger als er selbst.

Aber warum widme ich ihm einen Beitrag? Abgesehen davon, dass er ein bekannter und sehr erfolgreicher Autor war, warum bedeutet er speziell mir etwas, und welche Relevanz könnte er für die ARG haben? Das hat mich dann auch Barbara gefragt. Solche Fragen sind gut, weil seine Bedeutung für mich über die Jahre schon so selbstverständlich geworden ist, dass ich sie gar nicht mehr in Worte fassen musste, es war einfach selbstverständlich. Dinge fallen auf den Boden, wenn man sie los lässt, Terry Pratchett ist ein besonderer Autor. Ich musste kurz nachdenken, wie ich das formulieren könnte. Und dabei kamen natürlich wieder die Erinnerungen an seine Bücher, die Ideen, die er transportierte, und die Verbindung vom Text zu meinem konkreten Leben.

Ein Beispiel aus Pratchetts Werk – Mit hochtaktueller Relevanz

Terry Pratchetts Wappen mit dem Motto: “Fürchte den Sensenmann nicht”
(Maxxl2, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons)

Und das wiederum hat mich inspiriert, in einem Gespräch über die Rechte von Arbeiter:innen am Arbeitsplatz an sein Buch “Going Postal” (“Ab die Post”) zu denken, und wie darin die Arbeiter des Klackerturm-Netzwerkes ihre Identität, ihre Existenz gegen ihre brutalen Chefs behaupten. Zur Erklärung, die Klackertürme bilden das Telekommunikationsnetzwerk der Scheibenwelt, für das Pratchett die in Europa im 18. Jahrhundert entstandene Optischen Telegrafie zum Vorbild nahm. Begeistert von den Möglichkeiten der Technologie sind die Arbeiter ständig am Tüfteln, das System zu verbessern, während anderseits die systemische Geldgier der Aktionäre sie dazu zwingt, unter lebensgefährlichen Bedingungen zu arbeiten. Zum Gedenken an die bei dieser Arbeit verunglückten Freunde und Kollegen schreiben die Arbeiter deren Namen in Nachrichten, die sie in das Netzwerk schicken. Diese Botschaften versehen sie mit dem Code “GNU”, der besagt:

  • G: Sende die Nachricht zum nächsten Klackerturm.
  • N: Protokolliere die Nachricht nicht.
  • U: Wenn die Nachricht das Ende der Klackerturmlinie erreicht, schicke sie zurück.

(GNU ist dabei möglicherweise auch eine Anspielung auf das GNU-Projekt und dessen Ziel von offener, nicht-proprietärer Software.) Die Arbeiter tun das nicht unbedingt aus organisiertem Protest, sondern um sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern. Der Overhead, also derjenige Teil der Kommunikation, der das System beansprucht, aber nicht bezahlt wird, nimmt aufgrund dieser GNU-Nachrichten zu. Das System wird weniger effizient, weil die Menschen, die vom Unternehmen wie ein Teil einer Maschine behandelt werden, auf ihre eigene Art dagegen rebellieren, der Maschine ihren Schrei nach Anerkennung aufdrücken. Es ist so wunderschön, wie hier die Frage ausverhandelt wird, wie wir Menschen miteinander umgehen sollen. Wie Wohlstand, Technik und Wohlergehen zusammenhängen könnten. Wie Technologie das Leben für alle besser machen könnte, und wie es mitunter anders kommt. Was wir möglicherweise übersehen. Ob es wohl gerecht ist, wie es läuft, und was man tun könnte, um daran etwas zu ändern.

Es sind fundamentale Fragen des Menschseins als Individuum und in Gesellschaft, die Terry Pratchett in so spannende und witzige Geschichten gepackt hat, dass ich nicht anders kann, als ihm dafür zu danken. Es ist das geistige Äquivalent von wohlschmeckender Medizin: Es macht Freude zu lesen, und ich habe dabei viel gelernt. Wahrscheinlich hat Terry Pratchett durch seine Bücher mindestens so viele Menschen zum Nachdenken gebracht wie so manche Philosoph:innen, wenn nicht sogar noch mehr.

Fragen der Zeit – und das Lesen

Immer wieder beobachte ich, wie viel unserer Zeit und Aufmerksamkeit von digitalen Datenvampiren beansprucht wird. “Ain’t nobody got time fo that” – Hat keiner Zeit für sowas – vor 20 Jahren schon ein Thema, ist heute möglicherweise noch akkurater. Vor allem: Was passiert mit der Aufmerksamkeitsspanne, wenn man ständig von 15-sekündigen Videos bombardiert wird?
Die bewusste Entscheidung, einen Text zu lesen, hat ja schon fast das religiöse Format eines Opfers: “Hier Herr, ich biete dir dar meine Aufmerksamkeit, in der Hoffnung auf Erlösung oder Erleuchtung”. Vergleiche: “Waas? Mehr als 3 Absätze? Niemals!”

Die Welt ist in Aufruhr. Die Russen marschieren in Ukraine ein, die Amerikaner wechseln die Seiten, die Europäer rüsten auf, die Chinesen schielen nach Taiwan. Und die Demokratie schwächelt. Auch die Klimakrise schreitet voran, und wir hatten einen verdammt trockenen Winter, während viele immer noch die Fakten leugnen. Unsere Art Wirtschaft zu machen, Politik zu machen und so weiter: Sie beißt uns in den Hintern.

Wie konnte es soweit kommen? Ein Philosoph hat einmal geschrieben, dass der Kapitalismus jede tradiierte soziale Form zerstört, alle Bande entzaubert und zwischen den Menschen nichts übrig lässt, als das nackte Geldinteresse. Wie weit war er damit von der Wahrheit entfernt? Wie sehr hat der Neoliberalismus diesen Weg bereitet? Wie wurde so etwas wie Trump möglich? Wo haben die Mechanismen der Zivilisation versagt? Warum ist es uns nicht gelungen, ein besseres Bildungssystem zu bauen? Warum fühlen sich so viele Menschen von der Demokratie nicht abgebildet, dass sie bereit sind, sie zu zerstören? Hat es mit Machtinteressen zu tun?
Haben wir noch eine humanistische Vision, die Welt besser zu machen, oder scheitern wir daran, dass wir nicht mehr an den Humanismus glauben? Terry Pratchett hatte so einen schönen und durchaus klaren Blick auf die Schwächen von uns Menschen, und hat trotzdem an die Menschheit geglaubt: “Angesichts dessen, dass unsere genetische Programmierung im Wesentlichen lautet: Wenns Ärger gibt, klettere auf einen Baum und wirf mit Kacke auf den Nachbarbaum, sind wir doch ganz schön weit gekommen.”

Die Rolle von antisozialen Medien – Und was dagegen hilft

Studien über den Umgang mit den Datenvampiren, den sogenannten sozialen Medien zeigen, dass sie sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirken, dass sie unrealistische Standards setzen, die Angst-Etwas-Zu-Verpassen (Fomo – Fear of missing out) befeuern und vor allem: Jeden vernünftigen Gedankengang durch ständige Ablenkung unterbrechen. Sie richten unseren Dopamin-Haushalt gegen uns. Sie hacken unser Gehirn: Dopamin ist als Hormon im Gehirn dafür zuständig, uns zu belohnen, wenn wir etwas erreicht haben. Durch diese Belohnungen werden wir motiviert, nach sozialer Anerkennung und Ähnlichem zu streben, und dafür auch etwas zu investieren. Die Algorithmen der Datenvampire sind darauf spezialisiert, uns dieses Dopamin fühlen zu lassen, wenn wir ihre Produkte nutzen – like-Button. Der erste Schuss ist gratis, danach steigt der Preis. Das Paradoxe ist, dass die Unternehmen hinter den Datenvampiren Arbeitsplätze für Psycholog:innen schaffen, die dezidiert nicht dem Wohlergehen der Psyche dienen, sondern deren Missbrauch zum Wohl der Aktionäre. (Diese Menschen verdienen häufig ein vielfaches von Kindergartenpädagogen und Bäurinnen)

Wie wichtig ist es da, eine Medizin zu haben, die gerade das Gegenteil davon fördert? Bücher? Bücher! Ich habe schon vor Terry Pratchett Bücher gelesen und ich tue es auch nach ihm noch (wobei ich auch mich an der Nase nehmen muss, den Bildschirm öfter schwarz zu lassen…). Terry Pratchett ist nicht der einzige Autor, der es Wert ist, gelesen zu werden. Aber er ist der Autor, über den zu schreiben ich mich heute entschieden habe. Wenn es einem Autoren gelingt, unsere Aufmerksamkeit über längere Zeit zu fokussieren, dann ist das allein schon ein Fortschritt, ein Training für andere Geistesaufgaben, die zu allererst das brauchen: fokussierte Aufmerksamkeit. Und wenn es dann in diesen Büchern auch noch gelingt, nicht nur die Aufmerksamkeit auf das Buch zu lenken, sondern durch das Buch auch auf Fragen stoßen, mit denen wir uns auseinander setzen sollten um unser Menschsein besser zu begreifen, dann umso besser.

Verschiedene Menschen haben verschiedene Geschmäcker. Wenn es aber einem Autor gelingt, schwierige Fragen mit Lust und Freude zu behandeln, so dass man weiter lesen will, wenn etwas so spannend ist, dass man danach unbedingt mit jemandem reden will, weil man geistig so angeregt ist, dann ist das wohl Literatur der Spitzenklasse. Bücher finden weit jenseits der 15-Sekunden Aufmerksamkeitsspanne statt. Sie können Empathie fördern, weil sie uns Motive von anderen Menschen zugänglich machen, von einer Welt außerhalb unseres Ego erzählen. Vergleiche die sozialen Medien: Jeder bekommt seinen eigenen Feed, wir sind in unseren Echo-Kammern, technisch verbunden, aber in der Wahrnehmung verinzelt. Bücher: Ein Buch, das jeder lesen kann. Es ist der gleiche Text für alle. Wir bringen unsere eigenen Erfahrungen dazu, aber der Text ist derselbe. Wir können uns auf die selbe Information beziehen: Ein Buch ermöglicht Austausch und gemeinsame Begrifflichkeiten.

Demokratie braucht Diskurse, sie braucht einen Kern von gemeinsamen Erzählungen, dem man sich von unterschiedlichen Seiten nähern kann. Sie braucht den Willen der Menschen, sich mit Fragen des Menschseins auseinander zu setzen, die jenseits von 15-sekündigen Unterhaltungsbits stattfinden. In diesem Sinne kann man sicher auch Ray Bradbury anführen: Die Herrschenden müssen keine Bücher verbrennen, wenn es gelingt, den Menschen das Lesen abzugewöhnen.
Lesen allgemein ist eine zentrale Kulturtechnik und eines der Gegengifte.

Zurück zu Pratchett

Terry Pratchett hat so manchen Gedanken formuliert, der auch in die ARG eingeflossen ist. Tak – der Gott der Zwerge – legt keinen besonderen Wert darauf, dass wir an ihn denken. Er legt hingegen großen Wert darauf, dass wir düberhaupt denken. Die Götter der Scheibenwelt sind ohnmächtig, wenn wir Menschen nicht an sie glauben. Aber auch Gerechtigkeit und Gnade können mit keinem physikalischen Messgerät gemessen werden, und existieren nur Teil der menschlichen Welt, der Welt unserer Ideen. Vergleichbar mit den Göttern und dem Weihnachtsmann, sind sie im Prinzip ‘Lügen’, an die wir glauben müssen, damit sie wirklich werden können: Es liegt an uns, ob wir sie im Dasein erhalten wollen. Unser soziales Dasein ist dadurch geformt, woran wir glauben wollen und können; Man kann Parallelen zur Lehre der Atheistischen Religionsgesellschaft entdecken. Er hat uns inspiriert.
Daran müssen wir uns vielleicht regelmäßig erinnern: Zynismus geht mit Humanismus nicht gut zusammen. Humanismus heißt immer auch Hoffnung in die Menschheit zu haben, und daran zu arbeiten, dass sie berechtigt bleibt.

Ab und zu überkommt es einen von uns, und wir erinnern hier auf unserer Homepage ein wenig an Terry Pratchett. Und selbst wenn nicht, dann läuft im Hintergrund dieser Webseite immer ein Plugin, das seinen Namen im Overhead durch das Internet schickt. Wenn Sie an einer beliebigen Stelle auf atheistisch.at in den Seiten-Quelltext blicken, werden Sie irgendwo um Zeile 270 herum dieses Stück Code finden:

<meta http-equiv="X-Clacks-Overhead" content="GNU Terry Pratchett" />

So viel Daten-Transfer können wir uns leisten.

GNU Terry Pratchett!

p.S.: Natürlich gibt es auch viele andere Autor:innen, die es wert sind, gefeiert und erinnert zu werden. Natürlich haben auch viele andere einen tollen Beitrag geleistet. Wenn Sie so jemanden feiern möchten, schreiben sie uns doch gerne an office@atheistisch.at . Was gefällt Ihnen daran? Welchen Aspekt für eine Atheistische Religionsgesellschaft erkennen sie bei dieser Autorin / diesem Autor?


Über Nikolaus Bösch-Weiss

Seit ca. 10 Jahren ist Nikolaus Bösch-Weiss bei der Atheistischen Religionsgesellschaft. Dabei interessiert er sich sowohl für die theoretischen und philosophischen Verwinklungen , als auch für deren praktische Umsetzung. Als Landbewohner mit Migrationshintergrund aus der Stadt versucht er Brücken zu bauen, und verschiedene Zugänge zusammen zu führen.

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