In der Neuen Zürcher Zeitung vom 14.1.2020, später auch in der Kleinen Zeitung und der Neuen Vorarlberger Tageszeitung vom 18.1.2020 geht Professor Konrad Paul Liessmann in einem Kommentar auf die Antragsstellung der ARG beim Kultusamt der Republik Österreich ein. – Hier eine ausführliche Entgegnung.
Grundsätzlich freuen wir uns darüber, dass Liessmann unseren Antrag aufgreift. Das ist besser, als wenn er ignoriert würde. Schließlich sind Bad News in der Öffentlichkeitsarbeit oft besser als No News. Andererseits wollen wir den Kommentar so auch nicht stehen lassen und bemühen uns bei beiden Zeitungen um eine Gegendarstellung. Dort ist Platz leider so knapp, dass man auch Wesentliches weglassen muss, um das noch Wesentlichere hinüber zu bringen. Daher möchte ich die Gelegenheit hier nutzen, um etwas mehr noch in die Tiefe gehen zu können.
Dem Aufbau nach erfolgt also zuerst die Kritik an Liessmanns Text und dann ein Ausblick darauf, was nun eben Atheistische Religion ausmachen könnte und welche Widersprüche nur anscheinend bestehen.
Teil 1: Si Tacuisses … oder: Wie Konrad Paul Liessmanns Kritik auf ihn zurück fällt.
Teil 2: Was Religion sein kann, und wieso sie nicht im Widerspruch zu atheistischen Überzeugungen stehen muss.
Teil 1: Die Kritik an Liessmann
KP Liessmann findet harte Worte: der Antrag glaube sich “irrtümlich der religionskritischen Tradition der Aufklärung verpflichtet”, heißt es da. Man spüre eine “kritische Provokation gegenüber dem Staat”. Kurz darauf wird uns allerdings vorgeworfen: “Sie meinen es ernst.” Wir seien der Versuchung erlegen, die eigenen “Vorstellungen durch das Gewand der Religion” immunisieren zu lassen. “Vom heroischen Stolz der Aufklärer, die sich der Vernunft verpflichtet fühlten und diese streng vom Glauben trennen wollten, ist nichts mehr zu spüren.” “Alles wird zu einem religiösen Gefühl erklärt und damit dem Diskurs entzogen. Die Rationalität dankt ab.”
Das ist starker Tobak, wie man so schön sagt, und wäre seine Argumentation auf solider Basis aufgebaut, müsste es unsere Anschauung erschüttern. Lediglich: Liessmann hat unsere Kontaktaufnahme schon im Vorfeld ignoriert, er hat uns nicht gefragt. Wir müssen davon ausgehen, dass er den Antrag, den wir auf dem Amtsweg beim Kultusamt eingebracht haben, inhaltlich nicht kennen kann. Nichtsdestotrotz sehen wir uns in der Tradition der Aufklärung und sind bereit, uns mit Kritik auseinander zu setzen.
Allein: Sie muss gut begründet sein. Und hier hapert es eben.
Beginnen wir beim Religionsbegriff:
a) Religion heiße Glauben an Gott
Für Liessmann ist es scheinbar ein und dasselbe. Religion heiße, an einen Gott glauben. Nur unter dieser Prämisse kann er sich Sätze erlauben wie diesen hier: “Nicht an einen Gott zu glauben, will also das Gleiche sein, wie an einen Gott zu glauben?” Folgerichtig ist es für ihn paradox, wenn “Menschen, die der Ansicht sind, dass Gott nicht existiert, […] wie eine Kirche behandelt werden [wollen].”
Dabei stellt sich Herr Liessmann selbst ins Abseits: Das österreichische Recht hat 1983 entschieden, dass die Buddhistische Religionsgesellschaft anerkennt wird. Die Buddhisten selbst bezeichnen sich als “nichttheistisch”, glauben also nicht an einen Gott, sind aber als Religion anerkannt. De facto gibt es also einen wirkmächtigen Religionsbegriff, der auch nichttheistische Überzeugungen als Religion anerkennt.
Weiters gibt es die “Statusrichtlinie” der EU. Sie zählt sogar explizit atheistische Überzeugungen zum Religionsbegriff: „[D]er Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen“ (Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates bei Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b) .
Diese Punkte widerlegen eindrucksvoll, dass Religion mit dem “Glauben an Gott” gleichgesetzt werden darf.
Auch in der Wissenschaft hat KP Liessmann nicht nur Bewunderer. So attestiert ihm der Religionswissenschaftler Gerald Hödl, dass der von Herrn Liessmann verwendete Religionsbegriff im Wesentlichen den Diskurs in der Religionswissenschaft ausblendet und überhaupt auf einer zu geringen religionsgeschichtlichen Basis aufzubauen scheint.
b) Das Religiöse Gefühl
Ein weiterer Punkt, wo Herrn Liessmanns Begriff zu eng ist, bezieht sich auf das “religiöse Gefühl”. Mehrfach deutet er an, es handle sich bei Religion um den Versuch, die eigenen Überzeugungen als Gefühl gegen den Diskurs zu immunisieren. Wie wir zu zeigen versuchen, scheuen wir den Diskurs keineswegs. Das religiöse Gefühl mag tatsächlich ein wichtiges Element des religiösen Erlebens sein. Aber genauso wenig wie mich Hunger oder Trauer daran hindern, ein rationaler Mensch zu sein, hindert mich ein religiöses Bestaunen der Komplexität der Natur daran, sie mit meiner Vernunft ergründen zu wollen. Ganz im Gegenteil. Auch Dawkins zitiert die Bedeutung des religiösen Gefühls als Motiv für die Erforschung der Welt. Das Staunen, das die Faszination auslöst, das Begehren, das Bewunderte besser zu verstehen, ist kein Hemmschuh der Vernunft.
Tatsächlich wäre es vielleicht problematisch, würden wir unsere Weltbetrachtung und unser Handeln in ihr lediglich auf religiöse Gefühle zurückführen. Genauso wenig, wie eine Agrarwissenschaftlerin ihre Erkenntnisse des Pflanzenbaus mit ihrem Hungergefühl begründen würde.
Nein, der Hunger kann dazu motivieren, den Pflanzenbau besser zu verstehen. Das religiöse Gefühl kann motivieren, die komplexen Zusammenhänge der Welt besser zu verstehen.
Darüber, was Religion nun abseits des religiösen Gefühls sein kann, kommen wir gleich nach der letzten Kritik.
c) Konrad Paul Liessmann und das Verhältnis zwischen Staat und Religion
Liessmann scheint sich einen laizistischen Staat zu wünschen: “Theoretisch müsste der Spuk dann ein Ende haben.” Die Alternative ist, dass der Staat sich neutral verhalten muss, wenn es ein würdeloses “Gerangel um die Bevorzugung von Gefühlswelten” gibt.
Liessmann enthält sich hier einer expliziten Meinung, er kritisiert nicht so sehr den Status quo und das Konkordat. Ganz im Gegenteil, er scheint die etablierten Religionsgesellschaften sogar zu verteidigen gegenüber “jeder beliebigen weltanschaulichen Marotte” – zu der er uns anscheinend zählt. Mit Fragen der Praxis, die für zahlreiche Religionsbegriffe enorm wichtig ist, beschäftigt sich Liessmann keinen Halbsatz lang. Die Spannung zwischen Gleichbehandlungsgrundsatz und Konkordat ist ihm weniger wichtig als die Verächtlichmachung unseres Strebens nach gleichberechtigter Anerkennung.
Es bleibt mir zu sagen: Herr Liessmann, Aufklärung geht anders.
Fazit zu Konrad Paul Liessmann:
Er geht von seinen impliziten Vorurteilen aus und präsentiert seine Schlüsse daraus, ohne sie explizit zu machen. Ich habe versucht zu zeigen, wie viel Widerspruch er damit auslöst, wie unwissenschaftlich sein Vorgehen ist und wie sehr der Irrtum über die Aufklärung auf ihn selbst zurück fällt.
Anhand der angeführten Gegenbeispiele wollte ich zeigen, was ein zu eng gefasster Religionsbegriff ist, und möchte im Folgenden versuchen, einen weiteren Religionsbegriff zu präsentieren.
2. Wie kann der Religionsbegriff so gefasst werden, dass er für Atheismus keinen Widerspruch darstellt.
Was auf den ersten Blick für viele unmöglich erscheint, ist auf den zweiten Blick eine leichte Übung, besonders wenn man brauchbarere Religionsbegriffe heranzieht.
Der verengte Blick, wie wir ihn gerade kennen gelernt haben, beschränkt sich auf das religiöse Gefühl und den Glauben an Gott. Der erweiterte Blick, wie ich ihn jetzt vorstellen möchte, nimmt die Praxis in die Mitte.
Wir müssen uns von der Hoffnung lösen, eine Definition von Religion in einem Satz geben zu können. Vielmehr ist es ein Zusammenspiel verschiedener Aspekte. Müsste ich es versuchen, würde ich es wie folgt beschreiben:
“Religion nach meinem Verständnis begreift ein umfassendes Zusammenspiel zwischen dem für wahr Erachteten, dem Vorurteil, der Welt-Hypothese sozusagen, und dem Handeln in der Welt.”
Damit ist viel mehr nicht gesagt, als gesagt ist. Das für wahr Erachtete kann ein Glaubenssatz sein, den mir meine Eltern in die Wiege gelegt haben. Es kann aber auch eine Überzeugung sein, zu der ich durch die Lektüre eines wissenschaftlichen Textes gelangt bin. Es bezieht sich aber auch und vor allem auf die Frage dessen: Welche Maßstäbe lege ich an neue Information an, ob ich vertraue oder nicht? Es ist mitnichten gesagt, dass dieses “Glauben” im Widerspruch zu Vernunft und Kritik steht, ganz im Gegenteil, es ist oft das Ergebnis ebensolcher Überlegungen.
a) Der Be-Griff der Welt
Wenn die Welt uns als rundum beschränkte Individuen zu groß und unergründlich erscheint, um sie vollständig zu begreifen, müssen wir auf kollektive Leistungen zurückgreifen. Wir können die Substanz der Welt, das Ding an sich, vielleicht nicht direkt erfassen. Der “Naive Realismus” hat in der Philosophie durch zahlreiche Probleme, die er aufwirft einen schweren Stand.
Wir können aber die Dinge der Welt in Beziehung setzen, indem wir Sätze über sie formulieren. Wir erzeugen Sprache, die das Unsichtbare (zum Beispiel die Gravitation, Gamma-Strahlung …) begreifbar macht. Und durch Sprache werfen wir ein Netz über die Dinge, in dem sie sich verfangen sollen. Ohne das Ding selbst direkt zu begreifen, können wir es einigermaßen fassen. In der Natur-Wissenschaft nennt man diesen Prozess “Modellierung”. Man erzeugt ein Modell und testet es. In der Sozialwissenschaft spricht man von Theorie.
Alles sind Konzepte, Erzählungen und Bilder von der Welt. Es sind kulturelle Konstrukte, die wir für das eigene Verständnis und die Kommunikation untereinander erzeugen.
Nicht nur die unbelebte, die pflanzliche und die tierische Natur wollen wir begreifen, nicht nur für sie brauchen wir Modelle und Theorien.
Wofür lohnt es sich zu leben? Gerade auch das Menschsein selbst ist ein wesentlicher Bereich unserer Annäherung an die Welt; und somit die Kultur. Was heißt es, ein Mensch zu sein?
b) Fragen zur Orientierung
Welche Werte dienen einem guten Leben, und welche stehen ihm im Weg? Gibt es ein gesundes Maß zwischen Altruismus und Egoismus? Wo schlägt die Toleranz für das andere um in die Bedrohung des eigenen? Wo zerstört die offene Gesellschaft ihre eigene Lebensgrundlage? Ist eine offene Gesellschaft überhaupt etwas Anzustrebendes?
Wie kann ich mein eigenes Handeln in den zahlreichen Lebensbereichen mit unterschiedlichen Anforderugnen versöhnen, sodass ich mich nicht in den Widersprüchen zwischen “liebender Vater und fürsorglicher Nachbar” und “harter Verhandler” verliere?
Alles das sind Fragen der Lebenspraxis. Es sind Fragen, die auf individueller Ebene zum Beispiel in psychotherapeutischen Gesprächen behandelt werden. Es sind “seelsorgerische Fragen”. Von ihrer adäquaten Beantwortung hängt in großem Maße die Fähigkeit ab, das eigene Leben als sinnvoll und gut zu erleben, wie die Glücksforscherin und Psychologin Tatjana Schnell von der Uni Innsbruck belegt.
Die individuelle Psychotherapie ist eine, wenn nicht die moderne Erscheinung der Seelsorge. Ich bejahe sie eindeutig, bin froh um dieses Angebot, Leid zu vermindern, und Lebensglück zu steigern!
Aber ob sie allein mächtig genug ist, den Druck, der auf uns Menschen lastet, adäquat aufzufangen? Würde ich es glauben, hätte sich das Thema Religion erledigt.
Im Endeffekt geht die Arbeit mit der Psyche meistens mit Erzählungen und Handlungen einher. Was glaubst du über dich selbst, wie würdest du dich selbst beschreiben? Wie würdest du einen guten Tag beschrieben? Worauf bist du stolz? Handle so, dass du zufrieden sein kannst.
Die Medien im weitesten Sinn erzählen uns auch etwas über die Welt. Gedichte versuchen das Unbeschreibliche fühlbar zu machen. Philosophische Abhandlungen versuchen, es beschreibbar zu machen. Physikalische Protokolle versuchen, es messbar zu machen. Gemälde und Fotographie versuchen, es sichtbar zu machen …
c) Unser Versuch, den Antworten näher zu kommen
Und unsere Religion versucht, aus diesem Fundus menschlicher Kultur das Leben gestaltbar zu machen. Wir wollen vor dem Hintergrund dieser Analyse weiter daran arbeiten, für die großen Lebensfragen Angebote zu schaffen. Damit der Einzelne nicht allein bleibt.
Wir entwickeln Konzepte und setzen uns daran, sie praktisch umzusetzen:
* Seelsorger/innen, die in Rücksprache mit den Mitgliedern in feierlichen, zeremoniellen, weltanschaulichen Fragen beraten. – Man könnte sagen eine Art “Ritual-Berater” und “Zeremonienmeisterin”
* “Retreats” – Orte, an denen der Alltag und die profanen täglichen Notwendigkeiten auf ein Minimum reduziert werden können, um Raum für existenzielle Fragen und ihre Bearbeitung zu schaffen.
* Narrativ – eine Sammlung von Erzählungen und Betrachtungen, die den Menschen in seiner Unvollkommenheit aufnimmt und mit sich versöhnt.
* Gemeinschaftsleben – regelmäßige Gelegenheiten zum Austausch von Gedanken und Ideen, Freud und Leid, Fragen und Antworten.
* Vertretung nach Außen – wir sind Mitglied im interreligiösen Dialogforum Ethik der Initiative Weltethos Österreich (IWEO) und beabsichtigen, auch in anderen Räten und Beiräten zu vertreten.
*Unterstützung vor dem Recht: Wir sind bereits dabei, religiös verfolgten Ungläubigen zur Seite zu stehen. Wir sind bereits in mehrere Asylverfahren in ganz Österreich involviert.
Abschließend
Wir danken der NZZ, der Kleinen Zeitung und Konrad Paul Liessmann dafür, dass sie überhaupt über uns berichtet haben und uns die Aufmerksamkeit für diese Stellungnahme beschafft haben.
Ich hoffe, es ist mir einigermaßen gelungen, das Projekt der Atheistischen Religionsgesellschaft zunächst als Nicht-Widersprüchlich, als möglich darzustellen und darüber hinaus sogar als interessant und zumindest für diejenigen, die daraus Nutzen ziehen können, wünschenswert darzustellen.