Dieser Beitrag ist der erste Teil einer vierteiligen Serie zu Transzendenzbezügen der Atheistischen Religionsgesellschaft (1,2,3,4).
Am 30. Dezember 2019 hat die Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) beim Kultusamt im Bundeskanzleramt den Status einer staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft nach dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz beantragt. Das Kultusamt hat den Antrag am 23. Oktober 2020 abgewiesen. In den Erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage zum Bekenntnisgemeinschaftengesetz wird Transzendenz (-bezug) als wichtiges Kriterium zur rechtlichen Unterscheidung von Religion und Nicht-Religion festgelegt: „Religion: Historisch gewachsenes Gefüge von inhaltlich darstellbaren Überzeugungen, die Mensch und Welt in ihrem Transzendenzbezug deuten sowie mit spezifischen Riten, Symbolen und den Grundlehren entsprechenden Handlungsorientierungen begleiten.“ Vor diesem Hintergrund läuft derzeit beim Verwaltungsgericht Wien ein Bescheidbeschwerdeverfahren. Was kann hier mit Transzendenz gemeint sein?
Der Ausdruck „Transzendenz“ lässt sich vom lateinischen Verb „transcendere“ ableiten, das mit „überschreiten, übersteigen“ übersetzt werden kann. Das darin enthaltene lateinische „trans“ bedeutet so etwas wie „(hin-) über, darüber hinaus, (hin-) durch“ und knüpft wohl an die indogermanische Wurzel *terh2– „hinüber (-kommen), durch (-kommen), über (-winden)“ an. Vor diesem gemeinsamen Hintergrund einer Grenzüberschreitung gibt es bemerkenswert unterschiedliche Vorstellungen über Transzendenz. Auch im Bereich der Religion(en).
Nicht nur christliche Vorstellung
Darunter finden wir etwa die – nicht nur, aber auch – christliche Vorstellung, dass es über die für uns aktuell sichtbare und vergängliche Wirklichkeit hinaus auch noch so etwas wie eine für die meisten von uns zwar jetzt noch unsichtbare, dafür aber unvergängliche Wirklichkeit (Gottes usw.) gibt, die (und deren Erleben usw.) die sichtbare Wirklichkeit ganz grundlegend übersteigt (transzendiert, lateinisch „transcendat“). Das ist aber eben nur eine von mehreren Vorstellungen über Transzendenz. Transzendenz kann auch anders vorgestellt werden. Die Grenzüberschreitung z.B. bei einer Unterweltsfahrt im Rahmen antiker griechischer Religion setzt eher keine völlig andere Wirklichkeit voraus, sie erfordert allerdings mitunter eine Reise an einen sehr weit entfernten anderen Ort (z.B. zum Tartaros).
Auch Atheist*(inn)en können Vorstellungen über Transzendenz entwickeln. So wie z.B. Christ*(inn)en selbstverständlich das Recht haben, auf der Grundlage ihres eigenen Transzendenzverständnisses ihren eigenen Transzendenzbezug zu entwickeln (bis hin zur Vorstellung, dass ihr eigener, christlicher Gott im Grunde genommen der einzige wahre Gott ist und als solcher in unübertrefflicher Weise die von ihm alleine aus dem Nichts erschaffene Welt transzendiert), so wird – und muss – es wohl auch Atheist*(inn)en erlaubt sein, auf der Grundlage ihres eigenen Transzendenzverständnisses ihren eigenen Transzendenzbezug zu entwickeln.
Transzendenzbezüge
Die Atheistische Religionsgesellschaft glaubt etwas, das einem christlichen Glauben in gewisser Weise diametral widerspricht. Christliche Religionsgemeinschaften sagen sinngemäß: „Es gibt einen Gott, der uns alle erschaffen hat, und Jesus ist der Christus/Messias/Gesalbte dieses einen Gottes.“ Die Atheistische Religionsgesellschaft sagt sinngemäß: „Wenn es einen Gott gibt, dann nur deshalb, weil Menschen (bzw. allgemeiner: Lebewesen) ihn kulturell erschaffen haben, und eben nur als Kulturprodukt.“ Landläufig wird diese Aussage verkürzt zu: „Es gibt keinen Gott.“ Wenn die Frage nach der Existenz Gottes eine Frage mit Transzendenzbezug ist, dann ist wohl auch jede diesbezügliche Antwort mit Bezug auf die Existenz Gottes eine Aussage mit Transzendenzbezug. Darf dann ein stark christlich geprägtes Verständnis von Transzendenz dafür ausschlaggebend sein, was vom Kultusamt als Transzendenzbezug akzeptiert wird? Wie sieht hier eine religiös neutrale Entscheidung aus?
Weil Atheist*(inn)en z.B. über diesen Gott, der bei nicht wenigen Menschen für Transzendenz schlechthin steht, anders denken, wird ihnen von vielen Seiten ein Transzendenzbezug abgesprochen. Das ist insbesondere deswegen problematisch, weil auch Vertreter*innen der Republik Österreich diesem Missverständnis unterliegen können. Gegebenenfalls wird dann ausgesprochen oder unausgesprochen ein christlicher Maßstab an alle anderen Religionen angelegt, was natürlich nicht im Sinne der Religionsfreiheit ist. Beispielsweise kann von Buddhist*(inn)en, die ihre eigene buddhistische Vorstellung über Transzendenz (ohne Schöpfergott) haben, nicht verlangt werden, einen christlichen Transzendenzbezug zum christlichen (Schöpfer-) Gott der Christ*(inn)en herzustellen, und vice versa. Gleiches muss wohl auch für Atheist*(inn)en gelten.
Wilfried Apfalter ist Präsidiumsmitglied der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG)