Religion sollte weder mit Theismus noch mit Unvernunft verwechselt werden. Ein Plädoyer für einen wirklich kritischen Umgang mit Religion.
Im „Spectrum“-Teil der „Presse“ vom 13.4.2019 stellt Ulrich Körtner (auf Seite I) die Frage „Wie viel Religion brauchen wir?“. Ich möchte an diese Frage gerne eine weitere Frage anschließen: „Wie viel Religion wollen wir?“
In einem Gastkommentar in der „Presse“ vom 4.4.2013 schreibt Ulrich Körtner (auf Seite 26), der neue Atheismus stelle „das elementare Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit infrage“ und sei damit „in seinen Konsequenzen freiheitsgefährdend.“ In diesem Zusammenhang nennt Ulrich Körtner auch die Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich (ARG) sinngemäß als eine Vertreterin dieses neuen Atheismus. Ich selbst bin ein engagiertes Mitglied der ARG, kenne sie von allem Anfang an sehr gut und sehe sie deutlich anders. Nämlich als eine ernst gemeinte und ernst zu nehmende inhaltliche Alternative zu anderen Religionen. Und zwar als eine ernsthafte Alternative, die den Bereich von gesellschaftlich akzeptierter Religion – auf Augenhöhe mit anderen Religionsgemeinschaften – inhaltlich erweitern möchte und die das als eine sehr große Herausforderung nicht zuletzt auch für sich selbst und nicht nur für die anderen versteht. Und dabei das Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht nur nicht in Frage stellt, sondern auch für sich in Anspruch nimmt. Das mag vielleicht einigen Beobachter*innen irritierend erscheinen, ist aber nicht freiheitsgefährdend. Eher im Gegenteil. Die ARG will ja neue Räume kultureller Partizipation für Atheist*innen eröffnen und nimmt dabei das Menschenrecht auf Religionsfreiheit sehr ernst.
Religion ist ganz sicherlich nicht dasselbe wie Theismus. Das Beispiel der in Österreich mit Verordnung vom Dezember 1982 seit Februar 1983 (BGBl. Nr. 72/1983) gesetzlich anerkannten nichttheistischen Österreichischen Buddhistischen Religionsgesellschaft (ÖBR) zeigt das sehr schön.
Die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union erklärt im Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe b ganz ausdrücklich (und führt in diesem Punkt die Richtlinie 2004/83/EG des Rates der Europäischen Union als Neufassung nahezu wortwörtlich fort): „Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer [Richtlinie 2004/83/EG: der] Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.“
Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen […].
Diese Richtlinie tut dies im Rahmen einer Regelung des Umgangs mit Flüchtlingen (als sogenannte „Status-Richtlinie“), wobei Artikel 10 einer Darlegung der „Verfolgungsgründe“ gewidmet ist. Die Richtlinie hätte in diesem Zusammenhang einfach festlegen können, dass religiöse Verfolgung oder Verfolgung aus religiösen Gründen auch die Verfolgung atheistischer Glaubensüberzeugungen und Praktiken umfasst. Das tut sie so aber nicht. Sie sagt vielmehr ganz ausdrücklich: „Der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen […].“ Ein Beispiel für „theistisch“ ist etwa „christlich“ oder „islamisch“, ein Beispiel für „nichttheistisch“ ist etwa „buddhistisch“, und ein Beispiel für „atheistisch“ ist – nun ja: eben „atheistisch“. Damit ist klar, dass im Rahmen des Rechts der Europäischen Union auch eine atheistische Religion durchaus denkbar und möglich ist.
Das aktuelle österreichische Religionsrecht ist leider eher uneinheitlich und durch historisch gewachsene Inkonsistenzen und Diskriminierungen (Bevorzugungen/Benachteiligungen) geprägt. Ich persönlich plädiere für eine wohlüberlegte Vereinheitlichung und sehr gut überlegte einheitliche Kriterien, die dann auch wirklich für alle gleichermaßen gelten (können). Um da dann auch wirklich nachhaltige Verbesserungen zu erreichen, wird neben Weitblick und handwerklicher Kompetenz wohl auch eine gewisse Weltoffenheit sehr hilfreich sein. Angesichts des Gleichheitssatzes in unserer Verfassung, nach dem sinngemäß jede zulässige Ungleichbehandlung eine sachliche Grundlage haben muss, und einer bemerkenswerten religiösen Vielfalt in unserer Gesellschaft liegt es durchaus nahe, die bisherigen Fragen noch einmal zu erweitern und uns über das bisher Gefragte hinaus auch zu fragen: Wie viel gleichberechtigte Religion – auch atheistische – wollen wir?
Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus betrachtet ist wohl nicht zu übersehen, dass das, was jeweils unter „Religion“ verstanden wird, auf vielfältige Weise kulturell verhandelt und ausgehandelt wird. Dies geschieht unter anderem auch auf rechtlichem Wege. Das Bekenntnisgemeinschaftengesetz ist ein Beispiel dafür. In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage zum Bekenntnisgemeinschaftengesetz 1998 wird „Religion“ im Punkt III („Begriffe“) folgendermaßen näher bestimmt: „Religion: Historisch gewachsenes Gefüge von inhaltlich darstellbaren Überzeugungen, die Mensch und Welt in ihrem Transzendenzbezug deuten sowie mit spezifischen Riten, Symbolen und den Grundlehren entsprechenden Handlungsorientierungen begleiten.“
Religion: Historisch gewachsenes Gefüge von inhaltlich darstellbaren Überzeugungen, die Mensch und Welt in ihrem Transzendenzbezug deuten sowie mit spezifischen Riten, Symbolen und den Grundlehren entsprechenden Handlungsorientierungen begleiten.
Religion ist so gesehen auch nicht dasselbe wie Unvernunft. Religion kann zwar auch mit (viel) Unvernunft verwirklicht werden, muss es aber nicht. Sie ist als Religion eben etwas anderes als Unvernunft. Spiritualität als Beziehung bzw. Verhältnis zur Transzendenz – das ist wohl immer auch ein Umgang mit kulturellen Narrativen, mit Erzählungen und Geschichten, die Perspektiven eröffnen und darlegen. Ich wüsste nicht, warum sich nicht auch interessierte Atheist*innen auf die Suche nach den aktuell besten verfügbaren kulturellen Narrativen, die in der Lage sind, uns Perspektiven auf existenzielle Themen mit Transzendenzbezug zu eröffnen und darzulegen, begeben können, über sie nachdenken können und sinnvoll mit ihnen arbeiten können. Unter „Theologie“ kann im Grunde genommen durchaus jede Erforschung einer Gottheit oder von Gottheiten (und deren Geschichten usw.), von Transzendenz (-bezügen), etc. … verstanden werden. Theologie kann so gesehen auch aus einer atheistischen Perspektive heraus durchaus interessant und sinnvoll betrieben werden. Aus einer religionswissenschaftlichen Perspektive betrachtet ist „Religion“ und sind (konkrete) Religionen natürlich sowieso interessant und der näheren Erkundung und Erforschung wert.
Es kommt wohl irgendwie auch darauf an, was jeweils gedacht wird, wenn das Wort „Religion“ zur Sprache kommt. Wer beim Wort „Religion“ etwa auch an die Beschäftigung mit existenziellen Fragen denkt, der entwickelt vielleicht weniger Widerwillen gegen und mehr weltoffenes Interesse für das kulturelle Phänomen Religion. Wohl nicht zwangsläufig, aber vielleicht. Immerhin.
Gar nicht so selten ist es irgendetwas an einer konkret erlebten Religion, das jemanden stört und dann dazu bringt, Atheist*in zu werden bzw. sich als Atheist*in zu verstehen. Von daher kommen wohl auch viele unter Atheist*innen weit verbreitete Vorbehalte gegenüber (bis hin zur ganz grundsätzlichen Ablehnung von) Religion. Es gibt aber auch gar nicht so wenige Menschen, die sich schlicht deshalb als atheistisch verstehen, weil sie – etwas verkürzt und alltagssprachlich gesagt – einfach nicht an eine(n) oder mehrere Göttinnen und/oder Götter glauben.
Ganz konkret sagt die Atheistische Religionsgesellschaft in einem sehr grundlegenden Teil ihrer Religionslehre (§ 2 Absatz 1 der ARG-Statuten): „Wir […] glauben, dass nicht Gottheiten uns Menschen erschaffen haben, sondern dass jeweils Menschen ihre Gottheiten (und deren Geschichten und so weiter) erschaffen haben beziehungsweise erschaffen, sodass alle diese Gottheiten (usw.) letztlich immer (nur) als von Menschen erschaffene Gottheiten (usw.) existieren […]“ – dass sie also „letztlich immer (nur) als von Menschen erschaffene Gottheiten (usw.) existieren“. Wenn wir dieses „(nur)“ einmal gedanklich beiseitelassen, dann ergibt sich die Aussage: dass sie also letztlich immer – zumindest, könnten wir sagen – als von Menschen erschaffene Gottheiten (usw.), also als Kulturprodukte, existieren. Dem können vermutlich sehr viele kulturwissenschaftlich interessierte Menschen, egal welcher Weltanschauung oder Religion, zustimmen.
Ich plädiere hier ausdrücklich für einen kritischen Umgang mit Religion – und zwar für einen wirklich kritischen Umgang mit Religion, der ein ernsthaftes Bemühen um ein realistischeres Bild und ein tieferes Verständnis von Religion miteinschließt. Das bedeutet unter anderem, den aktuellen Stand religionswissenschaftlicher Forschung (mit so interessanten Gebieten wie beispielsweise einer Cognitive Science of Religion) nicht zu ignorieren; und es bedeutet selbstverständlich auch, ein positives Potenzial von Religion nicht grundsätzlich auszublenden.
Religion kann, wie schon angesprochen, auch eine gesellschaftlich akzeptierte Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen bedeuten. Etwa mit Fragen wie: Wie kann und will ich und wie können und wollen wir leben? Was ist mir und uns wirklich wichtig im Leben? Wie kann ein gutes Leben gelingen? Was bedeutet das überhaupt: ein gutes Leben?
Die ernsthafte – auch gemeinsame – Beschäftigung mit solchen Fragen kann bei näherer Betrachtung ein durch und durch spannendes – auch gemeinsames – Abenteuer werden. Natürlich auch aus einer atheistischen Perspektive. Aus einer solchen vielleicht sogar ganz besonders. Gleichzeitig lädt die Atheistische Religionsgesellschaft auf ihre Weise nicht zuletzt auch irgendwie zu einem etwas entspannteren Umgang mit Atheismus und Religion ein.
Das geplante Eintragungsverfahren der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich stellt so gesehen in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Das Eintragungsverfahren wird, so ist zu erwarten, eine verbindliche nähere Klärung dessen, was im österreichischen Religionsrecht aktuell unter einer „Religion“ zu verstehen ist, erbringen. Es stellt damit eine in dieser Form so noch nicht dagewesene religionsrechtliche Herausforderung dar, sowohl für die ARG als auch für das Kultusamt. Eine kostenlose Mitgliedschaft bei der ARG trägt sehr wirkungsvoll zur Ermöglichung dieser spannenden religionsrechtlichen Überprüfung bei. Für den Antrag beim Kultusamt setzt das Bekenntnisgemeinschaftengesetz sinngemäß 300 Mitglieder voraus, aktuell hat die ARG über 220 ausreichend nachweisbare Mitglieder. Derzeit fehlen der ARG also noch etwa 80 ausreichend nachweisbare Mitglieder. Hierin liegt ebenfalls eine gewisse Herausforderung, zumindest für die ARG, aber vielleicht auch für diejenigen Atheist*innen, die sich noch nicht zu einer kostenlosen Mitgliedschaft bei der ARG entschließen können. Auch diesbezüglich werden wir vielleicht wieder auf die erweiterte Eingangsfrage zurückverwiesen: Wie viel gleichberechtigte Religion – auch atheistische – wollen wir?
Wilfried Apfalter, Präsidiumsmitglied der Atheistischen Religionsgesellschaft in Österreich (ARG)
Die Frage “Wie viel Religion wollen wir?” kann bei näherer Betrachtung vielleicht in unerwartete Bereiche führen … 🙂